Kapitel 11: Wo ist Gott?

Welches Ziel verfolgt eine ewige Seele, die alles hat? Im frei gewählten Exil in seinem Refugium hinterfragt Edgar zum ersten Mal den Himmel. Dann macht er sich auf, um seine Verwandten zu suchen.

Seit Klaudias Ankunft habe ich meinen Rückzugsort, mein persönliches Paradies, nicht mehr verlassen. Zunächst wollte ich einige Zeit lang niemanden sehen oder sprechen und mir einige Dinge klar machen. Dass ich mein Ableben nun endgültig und zur Gänze akzeptieren muss, zum Beispiel. Oder, dass es kein Zurück mehr gibt, auch wenn ein Teil von mir nicht aufhören kann, das zu hoffen. Dieser Teil ist es auch, der nicht aufhören kann an meine Familie zu denken.
Dann habe ich angefangen, mein Paradies umzugestalten: Ich habe Details des Strandes verändert und eine Holzhütte hier aufgestellt, eine Cabaña. Nun sieht es hier so aus wie an der Ostküste von Yukatan, südlich von Cancún in Mexiko, wo Heike und ich vor vielen, vielen Jahren Urlaub gemacht haben. Den mit Abstand besten Urlaub meines Lebens. Wir waren jung und frisch verliebt, wir brauchten nicht mehr als uns, ein paar Drinks, den Sand, das Meer und tausend Sterne. Ich wollte damals nicht mehr von hier weg.
Ich habe mir mehr als nur einmal überlegt, den damaligen Urlaub hier zu wiederholen; mir einfach alles herbeizuwünschen, so wie es damals war. Aber ich habe mich nie getraut. Wer weiß, was ich bekomme? Womöglich finde ich meine künstliche Frau abstoßend, oder ich verliere mich in dieser Phantasie – und beide Möglichkeiten könnte ich nicht ertragen. Da ist es schon besser, sie so in Erinnerung zu behalten, wie sie war. Auch wenn es noch so schmerzt, sie nicht bei mir zu haben. Und unsere Kinder. Doch das Andenken an meine Frau ist mir zu heilig, um es für eine billige Phantasie aufs Spiel zu setzen.

Edgar setzte ab und starrte geistesabwesend in die Ferne. Seine Frau hatte er nicht künstlich erschaffen, andere „Menschen“ aber schon. Er hatte versucht, sich mit einer Partygesellschaft, mit einer karibischen Band und mit anderen Frauen abzulenken, doch was immer er sich gewünscht hatte, welche Szenarien er auch ausgereizt hatte, am Ende war er jedes Mal zu derselben Erkenntnis gelangt: Hier war nichts echt. So sehr er sich ein echtes Erlebnis wünschte, so schnell durchschaute er seine selbstgeschaffene Illusion, blickte hinter seine selbstgebauten Kulissen, erkannte augenblicklich, dass jede Wunscherfüllung, von der er sich Glück versprach, vordergründig und hohl war, ohne jegliche Substanz.
Er seufzte und setzte erneut den Gänsekiel aufs Pergament:

Wenn man alles haben kann, ohne dafür auch nur mit dem Finger schnippen zu müssen, hat es keinen Reiz mehr, irgendetwas zu wollen. Seit ich das erkannt habe, sitze ich auf meinem Felsen und blicke auf die Unendlichkeit meines Ozeans. Vielleicht saugt ja das Vakuum in meiner Seele einen Sinn an, der mich erfüllen kann?
Wie lange das nun schon geht, kann ich nicht sagen, es ist mir auch egal. Denn mit der Zeit verhält es sich ebenso, wie mit den Wünschen: Wenn du alle Zeit besitzt, verliert sie jeden Wert. Für eine unsterbliche Seele, wie ich eine bin, macht es keinen Unterschied, ob Sekunden oder Jahrhunderte vergehen. Es gibt nichts mehr, auf das ich hinarbeite, hinfiebere oder hinbange. Oder auf das ich mich freue. Wann immer ich mein Paradies wieder verlassen werde, die anderen Seelen da draußen werden nach wie vor damit beschäftigt sein, sich ihre Wünsche zu erfüllen. Warum also danach fragen, wie viel Zeit vergeht?
Eigentlich habe ich momentan nur eine einzige Frage und die stelle ich mir schon, seit ich im unendlichen Weiß war. Ich habe mich nie getraut, sie jemandem zu stellen, nicht einmal mir selbst. Aber nun, alleine mit mir, meiner Ewigkeit und meiner Unendlichkeit, nun stelle ich sie doch.

„Wo ist Gott?“ Anstatt sie niederzuschreiben, rief Edgar seine Frage hinaus über das Meer. Er hörte die Verzweiflung in seiner Stimme, hörte seine Frage wider- und widerhallen, als hätte er sie gegen eine Felswand gerufen und nicht in den Wind. Seine eigene Stimme rührte sein Herz, sein Blick trübte sich ein und er schluchzte einmal auf, ehe er sich wieder seiner Tagebuchaufzeichnung widmete:

Seit ich denken, kann hat man mir immer gesagt, Gott sei im Himmel. Als ich erwachsen wurde, habe ich aufgehört, an Gott oder den Himmel zu glauben. Jetzt bin ich eines Besseren belehrt worden. Die Christen hatten Recht: Den Himmel gibt es.
Bedeutet das nicht auch, dass es Gott gibt? Aber wo ist er? Ich würde jetzt seinen Beistand brauchen, seinen Trost und seine Kraft, um mich endlich, endlich von meiner körperlichen Existenz lösen zu können! Denn nur dann, nur wenn ich es schaffe, das unsichtbare Tau zu kappen, das mich noch immer mit meinem vergangenen Leben verbindet, nur dann kann ich hier im Himmel glücklich werden.
Aber Gott ist nicht hier. Wer zeigt mir den Weg, den ich zu gehen habe? Ich brauche Orientierung und sei es auch ein Anker, selbst wenn er mich an einem Punkt festhält.

ICH MUSS ERKENNEN, WO IN DIESEM UNIVERSUM ICH BIN!

Und deshalb muss ich jetzt etwas tun, von dem ich weiß, dass es falsch ist und mein Leiden verlängern wird. Aber ich weiß mir nicht anders zu helfen. Das Einzige, von dem ich weiß, dass es wirklich ist, sind meine Erinnerungen.

Edgar blickte auf seine Hände hinab. Das Tagebuch war verschwunden, ebenso der Gänsekiel, stattdessen hielt er ein Foto, das ihm einen Stich ins Herz versetzte. Heikes, Annis und Matthias’ Gesichter sahen so echt aus, genau so wie an dem Tag, an dem er von ihnen gegangen war. Heike und die Kinder lebten in ihm, daran bestand nun kein Zweifel mehr, und als Edgar das erkannte, rannen ihm die Tränen wie zwei Bäche über die Wangen. Eingebildete Tränen über eingebildete Wangen wegen eines eingebildeten Fotos, an dem nur eines echt war: die Gefühle, die Edgar mit ihm verband.
Er liebte dieses Foto und er litt unter ihm. Er beschloss, es niemals irgendjemandem zu zeigen, nie jemandem davon zu erzählen, es als sein ganz privates, zärtlich gehütetes Geheimnis immer bei und in sich zu tragen, egal, wie lange die Ewigkeit dauern mochte.

* * *

Indem Edgar sich in das Foto versenkte, machte er sich zum ersten Mal seit seinem Tod Gedanken darüber, was seine Familie ihm eigentlich bedeutete und schämte sich. Die ganze Zeit über, zwei volle Jahre lang, war er oberflächlichen Vergnügungen nachgehangen und hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet, welche Chance ihm hier gegeben war. „Familie“ umfasste schließlich weit mehr, als nur den engsten Kreis von Frau und Kindern, sie umfasste Eltern und Geschwister, Großeltern, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins sowie alle weiter entfernten oder angeheirateten Verwandten. Und so kam es, dass Edgar jetzt, nach zwei Jahren, zum ersten Mal daran dachte, dass er ja gar nicht alleine hier im Himmel war. Alle seine Verwandten, die vor ihm die Welt der Lebenden verlassen hatten, waren irgendwo hier, er musste sie nur aufsuchen.
Edgar dachte an seine Großeltern mütterlicherseits, die kurz nacheinander gestorben waren; seine erste Begegnung mit dem Tod. Er war damals vierzehn Jahre alt gewesen, noch mehr Kind als Jugendlicher, und die Tatsache, dass er von klein auf viel Zeit bei den beiden verbracht hatte, hatte den Schmerz besonders heftig gemacht. Er war der Trauer völlig schutzlos ausgeliefert gewesen, hatte stundenlang geweint und am ganzen Körper geschlottert.
Wenn er jetzt an die Großeltern dachte, sah er vor sich zwei versonnene, großherzige, stets lächelnde runzlige Gesichter, deren Augen eine Güte ausstrahlten, die er nach ihrem Tod nie mehr angetroffen hatte.
Edgar fragte sich, in welcher Umgebung sie hier im Himmel wohl lebten – und wünschte sich kurzentschlossen zu ihnen. Sein Refugium quoll zu farbigen Nebeln auf, die sich zu neuen Kombinationen umgruppierten und wieder Gestalt annahmen.

Es war eine Wohnstraße, die sich aus dem farbigen Gewölk zusammensetzte, doch sie wirkte anders auf ihn als vergleichbare Wohnstraßen. Edgar erkannte zunächst nicht, worin der Unterschied bestand, was sie so fremdartig machte, doch dann kam ihm die Erinnerung zu Hilfe: Es war eine Wohnstraße aus vergangener Zeit.
Einstöckige Mehrfamilienhäuser in Pastellfarben standen hier in geordneter Symmetrie an beiden Seiten einer gepflegten Schotterstraße. Auf dieser und zwischen den Häusern hielten sich jede Menge Seelen auf, die allesamt in einem Stil gekleidet waren, der Edgar an Schwarzweiß-Fotografien aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erinnerte. Die Frauen trugen lange Röcke, hatten ihre Haare nach oben gebunden und oft mit einem Kopftuch bedeckt. Die Männer hatten Hüte aufgesetzt, waren in Leinenhemden und weite schlabbrige Hosen gekleidet. Die Gewänder waren vorwiegend in Grau- oder Brauntönen gehalten, nur ab und zu sah Edgar ein dunkles Blau, Rot, Grün oder Ocker.
Die Seelen vermittelten den Eindruck gemütlicher Geschäftigkeit. Frauen mit Einkaufskörben in der Armbeuge standen zusammen und unterhielten sich, ein Mann fuhr wackelig auf einem schwarzen Waffenrad an Edgar vorbei und grüßte ihn, indem er seinen Hut lüftete. Eine alte Frau stand breitbeinig vor einer Teppichstange und klopfte schwungvoll einen Läufer aus, der dabei eine geradezu unglaubliche Menge Staub freisetzte. Von hinten kam ein vierschrötiger Mann, der mit sichtlicher Mühe eine Holzkarre mit knirschenden Rädern zog. Sein Gesicht hatte einen mürrischen Ausdruck, bartstoppelig, verschmutzt und auch die seine Kleidung war in einem ähnlichen Zustand.
Plötzlich blickten alle Seelen wie auf Kommando in dieselbe Richtung die Straße entlang. Edgar folgte ihrem Blick und hörte erst jetzt das laute Geknatter, mit dem ein Automobil heranrollte, das perfekt in den Zeitrahmen dieser Wohnstraße passte. Die Seelen auf der Straße traten ohne Hast zur Seite, um das Vehikel vorbei zu lassen, und dessen Fahrer schwenkte dankend den Hut aus dem Fenster. Die Staub- und Rauchwolke, die das Gefährt hinterließ, legte sich nur langsam.
Was Edgar besonders ins Auge stach, waren die vielen Kinder. Sie saßen im Grasstreifen neben der Straße und rollten Murmeln, übten sich vor den Hauseingängen im Schnurspringen, spielten kichernd und laut aufjauchzend miteinander Fangen, oder hingen wie Kletten an ihren Müttern. Erst jetzt, als er das sah, wurde ihm bewusst, dass er in all den Monaten, die er nun schon im Himmel war, noch nie ein Kind gesehen hatte.

Er setzte sich in Bewegung und ging zum ersten Mehrfamilienhaus zu seiner Linken, denn dieses erkannte er wieder, in diesem lebten seine Großeltern. Als Kind war er oft hier gewesen und jetzt erschien es ihm als das natürlichste auf der Welt, dass seine Großmutter und sein Großvater noch immer darin wohnten.
Er stapfte den gemauerten Stiegenaufgang zur massivhölzernen Eingangstür hinauf. Auf die Hausmauer rechts war ein großer, roter Pfeil gemalt, der auf das Kellerfenster darunter zeigte. Was dieser Pfeil bedeutete, hatte ihm seine Mutter einmal erzählt, die in diesem Haus aufgewachsen war: Wenn im Zweiten Weltkrieg Bombenalarm gegeben wurde und nicht mehr genug Zeit blieb, um zum Gemeinschaftsbunker zu laufen, suchten die Menschen Zuflucht in den Kellern ihrer Häuser. Wurde ein Haus getroffen, standen die Chancen gut, dass der untere Teil der Hausmauer das Bombardement überstand, der aufgemalte Pfeil also noch sichtbar war. Hier begannen die Rettungskräfte zu graben, denn ein Kellerfenster gab ihnen Zugang zu möglichen Überlebenden. Was für eine schreckliche Zeit!
Edgar blickte auf das Paneel mit den vier Türklingeln und spürte, wie ein Lächeln seine Lippen spannte. Hier wohnten tatsächlich die Seelen jener Menschen, die auch zu ihren Lebzeiten in diesem Haus zusammengewohnt hatten. Unwillkürlich fragte er sich, ob diese vier alten Ehepaare nach ihrem Tod tatsächlich wieder zusammengefunden hatten oder ob er hier nur die Verkörperung seines unbewussten Wunsches sah, in ein vertrautes Quasi-Zuhause zurückzukehren, in eine verklärte Erinnerung an einen unbeschwerten Teil seiner Kindheit.
Die Haustür war nicht abgeschlossen; sie war nie abgeschlossen gewesen. Mit dem Flur betrat Edgar seine Vergangenheit: Der enge Gang mit seinem speziellen Geruch, die glänzend polierten, dunkelbraunen Steinfliesen des Bodens, die jede für sich leicht konvex und an den Rändern teilweise ausgeschlagen war … Eintausendundein Details, die er in seiner Kindheit unbewusst in sich aufgenommen hatte, fügten sich hier wieder zusammen, als wäre seit damals keine Zeit verstrichen, als wären weder er noch seine Großeltern gestorben und als stünde in seinem Leben alles noch auf Anfang; als gäbe es noch Möglichkeiten und Hoffnungen.
Edgar schluckte schwer und zwang sich, zur Wohnungstür seiner Großeltern zu gehen. Er passierte links den Stiegenaufgang zu den beiden Parteien im ersten Stock und erreichte die beiden einander gegenüberliegenden Eingangstüren zu den Parterre-Wohnungen. Vor der rechten hielt er inne, atmete einmal tief durch und drückte dann den zylindrischen, gefederten Kopf mit dem Glockensymbol.

Das Buchcover von 'Auf der anderen Seite' von Roland Zingerle zeigt einen FBI-Agenten im Jenseits, der eine letzte Aufgabe erfüllen muss.

Auf der anderen Seite

»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«

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