Kapitel 13: Lüge und Wahrheit

Dass viele Seelen im Himmel eine Lüge leben, um glücklich zu sein, bringt Edgar zum Nachdenken. Er erkennt, dass das Paradies etwas höchst Privates ist, das sich jedem anders offenbart.

Nachdem die Großmutter die Sonne wieder hatte aufgehen lassen, ging Edgar mit ihr einkaufen. Dabei trug er ihren Korb, wie damals. Auf ihrem Weg zur Greißlerei und zurück trafen sie einige Nachbarinnen aus der Siedlung, mit denen sie jeweils ein kurzes Schwätzchen hielten. Neuigkeit Nummer eins war natürlich Edgar, der Enkel, der seine Großeltern besuchen gekommen war. Zwischen zwei solcher Plaudereien fielen Edgar wieder die Kinder auf.
„Sag einmal Oma, wie kommt es, dass hier so viele Kinder auf der Straße spielen?“
„Das ist nett, nicht?“
„Weißt du, überall sonst, wo ich bisher war, hat es überhaupt keine Kinder gegeben.“
„Das darf dich nicht verwundern. Es gibt keine Kinder im Himmel.“ Die Großmutter tat so, als erklärte das alles, doch als sie Edgars verständnislosen Blick sah, lächelte sie nachsichtig. „Die Kinder hier sind nicht echt, das sind bloß Wunschvorstellungen. Die jungen Familien, die du hier siehst, stammen aus meiner Generation. All diese Mütter und Väter waren im gleichen Alter wie ich und Opa, als sie starben, viele von ihnen sogar noch älter. Aber im Gegensatz zu Opa und mir wollten sie wieder jung sein und Kinder haben. Also sehen sie nun wieder jung aus und haben Kinder, so einfach ist das.“
„Sie leben mit erfundenen Kindern zusammen? Was soll das denn für ein Familienleben sein?“
„Oh, unterschätz das nicht, Edilein! Viele dieser Leute haben unten auf der Erde ihre echten Kinder verloren, zum Teil an der Front oder bei Bombenangriffen, zum Teil durch Krankheiten im Babyalter oder in der entbehrungsreichen Zeit danach oder bei Unfällen. Sie haben ihr Lebtag lang unter diesen Verlusten gelitten, deshalb holen sie sich jetzt ihr verlorenes Glück zurück.“
„Aber das ist doch nur eine Illusion!“
„Na und? Sie sind glücklich und nur dazu ist der Himmel doch da, nicht wahr?“
Edgar wollte etwas erwidern, hielt jedoch inne, als er in der Person, die ihnen entgegen kam, Frau Schultz erkannte. Sie mit seiner Großmutter etwa gleich alt und hatte in Edgars Kindheit zwei Häuser weiter gewohnt. Nachdem die beiden Frauen einander begrüßt hatten, schüttelte auch Edgar ihre Hand. „Grüß Gott Frau Schultz, Sie sind also auch wieder hierher gekommen?“
Sie musterte ihn lange mit ihren grauen Augen, bis so etwas wie Erkenntnis darin aufleuchtete. „Der kleine Edi! Ja, was tust du denn hier? Bist du wirklich schon so alt?“
Edgar lachte, schüttelte den Kopf und erklärte: „Autounfall.“
Frau Schultz ließ einen wahren Redeschwall über ihn herabprasseln, welcher schließlich von seiner Großmutter unterbrochen wurde. Daraufhin sprachen die beiden Frauen in der dritten Person über Edgar, wie es Erwachsene über Kinder in deren Beisein eben tun. Edgar fragte sich, ob Frau Schultz ihn tatsächlich als kleinen Jungen wahrnahm oder ihn nur so behandelte, weil sie es von damals so gewohnt war.
Als sie weitergingen, fragte Edgar die Großmutter: „Sag einmal, wie viele Leute aus eurer damaligen Siedlung wohnen denn auch jetzt hier?“
„Oh, sehr viele. Eigentlich sind nur die nicht gekommen, die sich auch im Leben nicht in unsere Siedlung einfügen konnten. Allen anderen gefällt es hier.“
„Und euer Verhältnis untereinander ist dasselbe wie zu euren Lebzeiten?“
„Ja. In allen Belangen.“
„Wie meinst du das?“
„Weißt du, man kann viel unter der Höflichkeit verstecken. Unter Nachbarn gibt es immer wieder Streitereien aus den verschiedensten Gründen. Mit manchen hat man auch ein gemeinsames Schicksal oder Erlebnisse, die man einander einfach nicht verzeihen kann. Das deckt man mit der Zeit mit Höflichkeit zu, um des lieben Friedens willen. Das heißt aber nicht, dass man etwas vergisst.“
„Aber sind die Dinge, die im Leben passiert sind, hier nicht bedeutungslos geworden?“
Die Großmutter musterte Edgar mit einem erstaunten Blick. „Wie kommst du denn darauf? Der Doktor Krainer aus unserem Nebenhaus hat als junger Mann ein Verhältnis mit der Frau vom Uhrmacher drei Häuser weiter gehabt. Glaubst du, der Uhrmacher hat ihm das verziehen, nur weil sie jetzt alle drei tot sind? Dabei ist das noch harmlos, ich will dir ja nicht erzählen, was während des Krieges und danach alles passiert ist. Nein, nein, was geschehen ist, ist geschehen und das bleibt auch.“

Edgar versank in Gedanken. Seine Großeltern lebten in einer Wohnstraße voller Seelen, die einander seit vielen Jahrzehnten kannten und die offenbar alle Probleme, die sie je miteinander gehabt hatten, unter einen Teppich der Höflichkeiten kehrten. Und dennoch war das ihre gemeinsame, ihre kollektive Vorstellung vom Himmel? Er sah sich um und ließ diese in zweifacher Hinsicht künstliche Welt auf sich wirken. Dann begann er, es zu begreifen: All das war ihnen vertraut und gab ihnen Sicherheit und Frieden, weil sie sowohl mit den guten als auch mit den schlechten Seiten umzugehen wussten. Jede andere Welt, und wäre sie noch so paradiesisch und ideal gewesen, hätte sie angestrengt, wahrscheinlich sogar überfordert.
Auf der Erde hatten sie zu einer Zeit gelebt, in der eine freie Berufswahl oder alternative Lebenskonzepte kaum ein Thema gewesen war und deshalb auch nie wirklich zur Debatte stand. In ihren jungen Jahren durchlebten sie einen grausamen Krieg, der alle Lebensbereiche umfasste und im gesamten Volk nicht eine einzige Familie verschonte. Danach hatten diese Menschen den Rest ihres Lebens damit verbracht, die materiellen Schäden zu reparieren und eine neue Gesellschaft aufzubauen. Für sie war jeder Tag, den sie ohne körperliche Schmerzen in einer einigermaßen intakten Familie verbrachten, schon Himmel genug gewesen.
Edgar fragte sich, mit wie viel oder wie wenig er sich zufriedengab und inwieweit er dadurch die endlosen Möglichkeiten einschränkte, die der Himmel ihm bot.

* * *

Als Edgar sich einige Wochen später von seinen Großeltern verabschiedete, war ihnen dieselbe Erleichterung ins Gesicht geschrieben, die auch ihn bewegte. Sie küssten und drückten einander und sowohl Großmutter als auch Großvater luden ihn herzlich ein, vorbeizukommen, wann immer er wollte. Edgar versprach, dass er das tun werde. Als er das Haus verließ, winkten sie ihm aus dem Küchenfenster nach.

Sie hätten es keinen weiteren Tag mehr gemeinsam unter einem Dach ausgehalten! Schon bald nach seiner Ankunft war Edgar bewusst geworden, dass er den Alltagsrhythmus seiner Großeltern auf Dauer nicht mitmachen würde. Und auch er störte ihre selige Zweisamkeit, denn seine Anwesenheit zwang sie dazu, gewisse Alltagsrituale abzuändern, was ihnen offensichtlich nicht recht war. Natürlich sagten sie kein Wort, jede Unbequemlichkeit wurde durch Höflichkeit überdeckt.
Edgar machte sich bewusst, dass es keine gemeinsame Ewigkeit geben konnte. Seine Großeltern und er entstammen verschiedenen Generationen, ihre Vorstellungen vom Leben im Himmel klafften meilenweit auseinander. Im Gegensatz zu Edgars Kindheit, in der klar gewesen war, wer das Sagen hatte und wer gehorchen musste, prallte nun außerdem seine entwickelte Persönlichkeit auf die ihre. Seine bitterste Erkenntnis war jedoch, dass sie einander mit ihrem Verhalten anlogen. Zum Beispiel waren die Freude seiner Oma, ihn zu begroßmuttern, und seine, begroßmuttert zu werden, nichts weiter als verzweifelte Versuche, eine Vergangenheit zum Leben zu erwecken, die längst nur noch in ihrer aller Erinnerung existierte. Edgar war nicht mehr das vorpubertäre Edilein und nichts was sie taten oder sich wünschten, hätte diese Zeit zurückbringen können.
Als ihm diese Dinge klar geworden waren, hatte Edgar beschlossen, die Reißleine zu ziehen. Wollte er ehrlich mit seinen Großeltern sein, musste er sich ihnen gegenüber wie die Seele verhalten, die er inzwischen geworden war. Also hatte er sich bei Oma mit einem Blumenstrauß und bei Opa mit einer Flasche Bauernschnaps für die herzliche Aufnahme bedankt und erklärt, er wolle sich noch andere Bereiche des Himmels ansehen. Sie hatten sich für ihn gefreut – und wohl auch für sich selbst.

Er trat auf die Straße hinaus und hielt noch einmal inne. Ein Pferdefuhrwerk trabte an ihm vorbei, der Lenker hob seinen Hut zum Gruß und erntete dafür das Winken einer jungen Frau, die mit ihrem erfundenen Kleinkind an der Hand die Straße entlang ging.
Es freute Edgar ehrlich, dass es seinen Großeltern gut ging und sie ihren Himmel gefunden hatten, aber sein Himmel sah entschieden anders aus! Trotzdem würde ich gerne wieder vorbeikommen, um mit ihnen zu plaudern.
Er verwandelte die alte Wohnstraße in bunte Nebel und ordnete diese zu seinem paradiesischen Strand zusammen. In einem ersten Reflex tilgte er die Cabaña und veränderte den Strand so, dass er ihn nicht mehr an den von Yukatan erinnerte. Dann setzte ich sich auf den äußersten Stein seines Wellenbrechers, wünschte sich eine kubanische Zigarre in die eine und ein Glas schottischen Whiskey in die andere Hand und begann nachzudenken.
Die vergangenen Wochen hatten ihm Dinge vor Augen geführt, die er davor aus Unwissenheit oder Naivität anders gesehen hatte. So war er immer davon ausgegangen, dass die christliche Vorstellung vom Himmel einen Zustand der absoluten Glückseligkeit beschrieb, welche selbstverständlich echt war. Nun hatte er Seelen kennengelernt, die ihre Glückseligkeit dadurch erreichten, dass sie sich bewusst selbst belogen. Sie schufen sich Kinder, die sie in ihrem irdischen Leben verloren oder sich vergebens gewünscht hatten und lebten mit ihnen in einem Alltag, den sie als perfekt gestaltet hatten. Edgar fragte sich, ob sie damit nicht nur eine innere Leere ausglichen, die sie von ihrem irdischen Leben mitgebracht hatten.
Er betrachtete das Foto seiner eigenen Familie und überlegte, was wohl geschehen würde, wenn er seine Tochter oder seinen Sohn künstlich erschuf. Es würde wohl keine Stunde dauern, bis auch dem blindesten Fleck in ihm klar war, dass er es nur mit einer Wunschvorstellung zu tun hatte und nicht mit meinem echten Kind. Edgar hielt es für ausgeschlossen, dass er sich selbst genug anlügen konnte, um mit einem solchermaßen unechten Familienmitglied glücklich zu werden.
Aber er wusste auch, dass er den Seelen in der Wohnstraße seiner Großeltern unrecht tat, wenn er sich mit ihnen verglich. Im Gegensatz zu ihm hatten sie nicht in einer intakten Familie leben dürfen, sie hatten immer nur Sehnsucht nach einer solchen gehabt. War es da nicht verständlich, dass sie in der Erfüllung dieser Sehnsucht das Paradies sahen? Und wenn die Zeit mit ihren echten Kindern zu kurz gewesen war, um deren Entfaltung mitzuerleben, oder so lange her, dass die Erinnerung an sie nur noch ein idealisiertes Konstrukt darstellte – was machte es dann für einen Unterschied, ob ihre Kinder hier echt waren oder erfunden?
Was machte es überhaupt für einen Unterschied, ob das selbsterschaffene Paradies eine Lüge darstellte oder nicht? Im Himmel war anscheinend ohnehin alles nur erwunschen und damit erfunden, offenbar ging es nur darum, dass die Seelen glücklich waren. Lüge und Wahrheit waren da keine Kriterien.
Edgar sah sich um: Sein Ozean, sein Strand, sein Wald – auch davon war nichts echt, nichts wirklich vorhanden. All das war nur seiner Phantasie entsprungen, seinen innersten Wünschen. War so gesehen nicht jeder Wunsch, den sich eine Seele erfüllte, eine Lüge? Wie sah dieser Himmel denn in Wirklichkeit aus? Wie das unendliche Weiß?
Vielleicht war die Unterscheidung zwischen Phantasie und Wirklichkeit, zwischen Lüge und Wahrheit ja nur im Körperlichen ein Problem, im Zusammenleben mit anderen.

Das Buchcover von 'Auf der anderen Seite' von Roland Zingerle zeigt einen FBI-Agenten im Jenseits, der eine letzte Aufgabe erfüllen muss.

Auf der anderen Seite

»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«

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