Kapitel 15: Das größte Spielkasino des Himmels

Laut Andrea hat der Himmel den Sinn, den Seelen alle Erfahrungen zugänglich zu machen, die ihnen überhaupt möglich sind. Eine davon ist der Besuch des größten Spielkasinos: Edgars Begriff von „Wunder“ erweitert sich einmal mehr.

Edgar lernte auch Seelen kennen, die schon seit Jahrzehnten, teilweise sogar seit Jahrhunderten nichts anderes taten, als ununterbrochen zu essen. Sie hatten sich ihr eigenes Schlaraffenland erschaffen und waren, im Gegensatz zu den Süchtigen, immer gut gelaunt und wirkten ausgesprochen glücklich. Nur wenige von ihnen gaben sich das Aussehen dicker Menschen, die meisten erschienen attraktiv und durchtrainiert. Edgar nahm an, dass dies zum Wesen von Genussmenschen gehörte.

Was ihn jedoch den Kopf schütteln ließ, war die Tatsache, dass auch Sex im Himmel ein großes Thema war. Andererseits erinnerte er sich, irgendwann gehört zu haben, dass die Sexualität gleich nach der Selbsterhaltung der zweitstärkste Trieb des Menschen sei. Folglich erschien es logisch, dass kaum eine andere Erinnerung an die Körperlichkeit so intensiv sein mochte, wie Sex. Dennoch dauerte es eine ganze Weile, ehe er sich an den Anblick all der Freudenhäuser in der Partymeile gewöhnt hatte, in denen es Prostituierte beiderlei Geschlechts für beiderlei Geschlecht gab. Mehr noch, er musste feststellen, dass die Prostituierten nur zu einem geringen Anteil künstlich erschaffene Figuren waren.
Als er noch neu in der Partymeile gewesen war, war Edgar das Treiben hier pervers vorgekommen. Er hatte den Himmel immer als höchste nur denkbare moralische Instanz angesehen, in der alles Körperliche außerdem keine Bedeutung mehr haben würde. Nun musste er feststellen, dass Seelen nicht nur miteinander schliefen, sie taten es sogar sehr oft und mit häufig wechselnden Partnern.
Doch je tiefer Edgar in dieses Leben eintauchte, umso klarer sah er, dass seine Vorbehalte nichts weiter waren als Moralvorstellungen, die für ein körperliches Leben geschaffen waren. Im Himmel galt nur eine einzige Moral, nämlich die, dass jeder seine Wünsche erfüllte. Und weder Edgar noch sonst irgendeine Seele musste hier eine Familie aufrechterhalten, auf unbeabsichtigte Befruchtungen Rücksicht nehmen oder sich vor Geschlechtskrankheiten schützen. Freilich, Sex unter Seelen war ebenso sinnlos wie Essen oder Trinken und Edgar hatte seit seinem Tod weder Hunger noch Durst noch sexuelle Lust verspürt. Doch wie bei allen anderen körperlichen Genüssen, so erklärte es ihm Andrea, war es auch hier die schöne Erinnerung, die die Seelen dazu führte, sich zu paaren.
Als Andrea Edgar endlich dazu überreden konnte, es mit ihr zu versuchen, war das Erlebnis für ihn bemerkenswert. Dass er keinen Unterschied zu dem Sex erkannte, den er als Lebender gehabt hatte, war wenig verwunderlich, immerhin wünschten sich sowohl er als auch Andrea ein körperliches Erlebnis und was Seelen sich wünschten, wurde ihnen erfüllt. Neu war jedoch, dass sich der Genuss weniger auf einer triebhaften Ebene abspielte, als auf einer ästhetischen; das Triebhafte nahm Edgar eher als Erinnerung wahr. 
Er hatte von nun an immer wieder Sex mit Andrea, aber auch mit anderen Seelen, wenn die Stimmung dazu passte. Es war nichts Sittenloses dabei, es war ein gemeinsames Erleben, wie die Fortführung eines angenehmen Gesprächs in intensiverer Ausprägung. Sex war unkompliziert.
Diese Erfahrung führte Edgar zu der kuriosem Erkenntnis, dass es die Liebe zwischen Mann und Frau im Himmel nicht gab. Seelen konnten miteinander harmonieren oder einander abgeneigt sein, aber sie konnten sich weder lieben noch hassen. Dadurch kam eine ganze Reihe anderer Gefühle gar nicht erst aufs Tapet, die sich im Leben vor dem Tod zumeist negativ ausgewirkte hatten, wie Eifersucht oder Missgunst. Nach einem langen Gespräch mit Andrea über dieses Thema wurde Edgar klar, dass die Liebe zwischen Mann und Frau im Grunde eine körperliche Angelegenheit war, eine Notwendigkeit, um die Fortpflanzung zu sichern.
Auf der anderen Seite, und darauf machte ihn Andrea aufmerksam, gab es dennoch einen klaren Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Seelen. Eine solche Unterscheidung mochte für eine körperlose Existenz belanglos sein, doch offenbar war jede Seele seit ihrer Zeugung auf ihr Geschlecht geprägt. Für Andrea, die ja zweihundert Jahre mehr Zeit als Edgar gehabt hatte, sich mit solchen Phänomenen auseinanderzusetzen, war dieser Umstand völlig klar: Mit den körperlichen Unterschieden, die für die Fortpflanzung auf der Erde notwendig waren, gingen auch eine Menge charakterliche Merkmale einher, die es dem Menschen überhaupt erst ermöglichte, seine biologische Funktion als Frau oder als Mann zu erfüllen. Das Geschlecht war also nicht nur ein fixer Bestandteil einer Seele, die Seele definierte sich sogar über ihr Geschlecht.
Als er das begriffen hatte, war Edgar geradezu geschockt, als Andrea ihn aufforderte, probeweise sein Geschlecht zu wechseln. Selbstverständlich ging das, denn was eine Seele sich im Himmel wünschte, wurde ihr nun einmal erfüllt. Also folgte er ihrer Aufforderung und stellte fest, dass er sich als weibliche Seele extrem unwohl fühlte. Er erkannte, dass er zwar sein Äußeres, seine körperliche Erscheinung nach Belieben verändern konnte, nicht jedoch die Essenz seines Seins, den lebendigen und sich im Leben entwickelnden Kern seines Wesens. Folglich konnte Edgar als Frau in Erscheinung treten, sich aber nicht in eine weibliche Seele verwandeln. Wie es schien, war dem Wünschen hier eine Grenze gesetzt.

Ganz allgemein stellte Edgar fest, dass ihn der Himmel umso mehr faszinierte, je mehr er ihn und seine Eigenheiten kennenlernte. Es schien, als täten sich mit jeder neuen Entdeckung immer noch mehr Möglichkeiten auf und er genoss es, Dinge an sich selbst zu erfahren, die er davor noch nie ausprobiert und an die er zum Teil noch nicht einmal gedacht hatte. 

Andrea zufolge hatte der Himmel den Sinn, jeder Seele die Möglichkeit zu bieten, alles zu erfahren, was überhaupt zu erfahren möglich wäre. Da dies ein endloser Prozess sei, so Andrea, müssten die Seelen zwangsläufig unsterblich sein. Edgar respektierte ihre Erfahrung, was den Himmel betraf und er gestand ein, dass seine eigenen bisherigen Erlebnisse ihr Recht gaben. Dennoch griff Andreas Vorstellung vom Himmel als eine Art Themenpark, an dessen Eingang man mit seinem Leben bezahlte und dann alle Attraktionen gratis nutzen durfte, für ihn entschieden zu kurz.

* * *

Als Edgar Andrea in das größte Spielkasino des Himmels ausführte, ahnte er nicht, was ihn erwarten würde. Sie hatte sich in ein atemberaubendes Cocktailkleid gewünscht, das ihre Beine – zumindest für Edgars Geschmack – perfekt zur Geltung brachte, während er sich einen Smoking mit Seidenhemd angetan hatte, der seine Männlichkeit unterstrich, wie noch kein Kleidungsstück je zuvor. Es war ihm zunächst kindisch erschienen, doch dann hatte er sich doch eine Stretch-Limousine samt Fahrer gewünscht. Als er und Andrea damit beim Kasino vorfuhren, schämte er sich allerdings für seine Fantasielosigkeit.
Vor dem Eingang zum größten Kasino des Himmels lag ein roter Teppich ausgerollt. Ein alter schwarzer Page in einer kardinalroten Uniform stand hier und öffnete die Türen der Wagen, die bei ihm hielten. Wobei der Begriff „Wagen“ der Sache nicht gerecht wurde, wie Edgar auf den ersten Blick sah. Was zunächst wie ein gegenseitiges Sich-Übertrumpfen mit Statussymbolen wirkte, entpuppte sich bei längerer Betrachtung als Wettbewerb der originellsten Ideen. Freilich standen auch Sportwagen mit übertrieben kurvig geformten oder abenteuerlich lackierten Karosserien in der Warteschlange vor Edgars und Andreas Limousine, doch diese bildeten die Ausnahme. Die Regel waren selbst geschaffene Gefährte: ein Maserati mit den Reifen eines Monster-Trucks, ein sechs Stockwerke hoher Bus mit Christbaumschmuck, ein selbstfahrendes sechsrädriges Motorrad mit vier nebeneinander angeordneten Sitzen anstelle eines Sattels, oder ein etwa dreißig Meter langes Cabriolet mir flexibler Karosserie, die sich dem Kurvenverlauf anpasste, wie eine Schlange. Gerade setzte ein fliegendes Sofa vor dem Kasino zur Landung an, das aussah, als hätte es jemand aus einer Wolke geschnitten. Nachdem seine beiden Insassen sich von ihm erhoben hatten, stieg es eingenmächtig wieder auf. Als Edgar und Andrea an der Reihe waren, tauchte direkt vor ihnen das Zeichentrick-U-Boot aus dem Musikvideo des Beatles-Hits „Yellow Submarine“ im Asphalt auf. Obwohl dreidimensional, war es eindeutig gezeichnet worden. Am roten Teppich öffnete sich eine Luke und ein Pärchen entstieg dem Turm, das ohne Weiteres John Lennon und Yoko Ono in jungen Jahren hätten sein können.
„Ist Yoko gestorben?“, fragte Edgar im Reflex und Andrea erwiderte mit fragendem Blick:
„Woher soll ich das wissen?“
Nachdem das U-Boot wieder im Asphalt abgetaucht war, fuhr der künstlich erschaffene Fahrer von Edgars und Andreas Limousine zum roten Teppich vor und wünschte ihnen einen schönen Abend. Der alte Page öffnete die Wagentür und die beiden traten in ein wahres Gewitter aus Blitzlichtern und ekstatischem Gekreische, als seien sie Filmstars. Sie schritten über den roten Teppich zum Kasino-Eingang und winkten lächelnd in alle Richtungen. Auch wenn sämtliche Besucher vor ihnen auf diese Weise empfangen worden waren – und wohl auch alle nach ihnen so empfangen werden würden –, tat es Edgar gut, im Mittelpunkt zu stehen, egal wie unecht das alles hier war.
Während sie das Kasino durch ein riesiges blinkendes Portal betraten, verwandelte sich ihre schwarze Limousine in ein weißes geflügeltes Pferd von der Größe eines Elefanten. Es wieherte einmal laut auf und nahm mit ein paar donnernden Galoppsprüngen ausreichend Schwung, um abheben und davonfliegen zu können. Auch dieser Abgang wurde mit Aufjohlen und Blitzlichtgewitter quittiert, welches sich kurz beruhigte, um gleich wieder anzuschwellen, als eine große, luxuriös gestaltete Liftkabine auf zwei langen biegsamen Metallbeinen heranmarschierte, sich absenkte und die nächsten Besucher entließ.
Der Innenraum des Kasinos war über schier endlos viele, nach unten führende Terrassen angeordnet, auf denen sich jeweils die Spieltische und -automaten befanden. Am Eingang stehend gewann Edgar dadurch den Eindruck, auf dem obersten Plateau einer flachen, aber unendlich hohen Pyramide zu stehen und über eine gold- und mahagonifarbene, dezent beleuchtete, glitzernde und blinkende Landschaft hinabzublicken, die sich in der Ferne verlor. Dieses Ambiente wurde perfekt unterstrichen vom Klingeln der Spielautomaten, Rollen der Roulette-Kugeln, Rattern der Glücksräder und den in gedämpfter Lautstärke geführten Gesprächen, die immer wieder von Glücksschreien der Gewinner unterbrochen wurden.
Um diese überwältigende Atmosphäre auf sich wirken zu lassen, stellten sich Edgar und Andrea an die nächstgelegene Bar und tranken ein Glas Gin Tonic. Danach schlenderten sie zu einem nahegelegenen Spielautomaten-Wald. Wie überall im Kasino standen auch hier niedere, runde Mahagoni-Tische, aus deren Mitte eine verzierte Edelstahl-Säule emporragte. Diese warf nach oben hin unablässig Spieljetons aus, wie ein Springbrunnen das Wasser. Die Jetons fielen klimpernd in das Edelstahlbecken an der Außenkante des Tisches. In einem Fach darunter standen große Zinnbecher bereit, mit denen die Spieler die Jetons aus dem Becken schöpfen und mitnehmen konnten. 
Edgar staunte nicht schlecht, als er mit ansah, wie sich die Jetons in seinem Becher in Münzen verwandelten, kaum dass er sich den Spielautomaten genähert hatte. Er fütterte einen der einarmigen Banditen und zog einige Male an dessen Agitationshebel. Wie in seinem Leben vor dem Tod wollten sich keine drei gleichen Symbole zusammenfinden, die für einen Gewinn notwendig gewesen wären, doch es machte dennoch Spaß. Doch dann sah Edgar sich um und begann zu lachen. Wieder zog er an dem Hebel, nur diesmal wünschte er sich etwas, das er sich auch in seinem irdischen Leben immer gewünscht hatte, wenn er an so einem Automaten gespielt hatte. Nur diesmal, und das war der Unterschied, diesmal ging sein Wunsch in Erfüllung.

Das Buchcover von 'Auf der anderen Seite' von Roland Zingerle zeigt einen FBI-Agenten im Jenseits, der eine letzte Aufgabe erfüllen muss.

Auf der anderen Seite

»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«

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