Kapitel 18: Gedanken

Andreas Behauptung, die Seelen im Himmel würden sich nicht weiterentwickelten, setzt in Edgar eine Gedankenkaskade in Gang, die ihn nicht mehr loslässt.

Andrea sprach langsam weiter, als würde sie dabei nachdenken. „Das heißt aber auch, dass die Seelen, die sich dieser Dinge bewusst werden, zu faul sind, um ihre Weiterentwicklung in Gang zu setzen. Andernfalls würde ja Entwicklung stattfinden.“
„Vielleicht gibt es einfach zu wenige?“, räumte Edgar ein.
„Mag sein. Oder es ist, wie du sagst und sie sehen keine Notwendigkeit, sich zu entwickeln, weil sie alles haben, was sie brauchen.“ Andreas Blick wurde geistesabwesend. „Ich habe im Laufe der Zeit jede Menge Seelen kennengelernt, die den Himmel ähnlich kritisch sehen wie ich, aber die meisten nehmen die Dinge als gegeben hin und arrangieren sich damit.“
„Und die anderen?“
„Ein paar von ihnen, so wie Angus, haben den Himmel verlassen. Die anderen versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen.“
„So wie du.“ Andrea begegnete Edgars Blick in einer Mischung aus Zorn und Hilflosigkeit. Er sprach weiter, um sicherzustellen, dass sie ihn nicht missverstand: „Angus hat den Himmel verlassen, weil er sich nicht mit ihm arrangieren konnte. Du wagst diesen Schritt nicht, deshalb machst du das Beste aus deiner Situation, indem du von Himmelsbereich zu Himmelsbereich springst und verzweifelt versuchst, einen Sinn in all dem hier zu finden.“
Bei Edgars Worten mischte sich Bitterkeit in Andreas Miene. Sie wandte ihren Blick ab und er spürte ihre Traurigkeit, als sie sagte: „Es gibt so viele von uns. Ich verstehe nicht, warum der Himmel so ist, wie er ist.“
„Du meinst in einem Himmel, der diesen Namen verdient, müssten alle Seelen glücklich sein, auch solche wie du und Angus?“
„Ja, oder?“ Andreas Blick war hilfesuchend, nach Bestätigung flehend. Edgar nickte.

* * *

Zurück in seinem persönlichen Paradies erklomm Edgar die Klippe, um möglichst weit auf das Meer hinauszusehen. Als er bemerkte, dass ihm das noch zu wenig an Höhe war, entschied er, dass in seinem Refugium ein Berg fehlte. Entscheidung, Wunsch und Erschaffung dauerten nicht einmal eine Sekunde. Mit einem gewaltigen Krachen und Beben wuchs hinter der Klippe, gleich neben dem Wald, durch den Edgar damals sein Paradies betreten hatte, ein gewaltiger Berg in den Himmel. Sein Gipfel lag so hoch, dass er von ewigem Eis bedeckt war.
Edgar begann den Aufstieg. Er wollte sich unterwegs noch einmal all die Dinge durch den Kopf gehen lassen, die er in der Partymeile erlebt und über die er mit Andrea geredet hatte. Da kam es ihm sehr entgegen, dass er nicht nach einem Weg suchen musste, denn ein solcher begann direkt vor seinen Zehenspitzen, und auch wenn Edgar ihn noch nie gegangen war, so wusste er doch, dass er ihn direkt zum Gipfel führen würde. Einmal mehr schüttelte er den Kopf über die Perfektion, mit der der Himmel seine Wünsche erfüllte. Da Edgar sich einen Aufstieg wünschte, der ihn nicht zu sehr anstrengte, aber schnell voran brachte, gewann er mit jedem Schritt beachtlich an Höhe.

Andrea hatte gemeint, die einzige Art von Fortschritt im Himmel geschähe durch neues Wissen, das von den Verstorbenen mit in den Himmel gebracht würde. Von diesen, so dachte Edgar nun, könnten auch die alteingesessenen Seelen etwas Neues lernen – und an diesen neuen Erkenntnissen weiterforschen, wenn sie es denn wollten. Er konnte sich vorstellen, dass das vielen Seelen gefallen würde und möglicherweise wurde das in einigen Bereichen des Himmels ohnehin so gemacht.
Dann musste er an seine Großeltern denken und an die Seelen in ihrer Wohnstraße. Diese wollten von Neuerungen absolut nichts wissen. Lag das vielleicht daran, dass sie schon in ihren letzten Lebensjahren oder -jahrzehnten den Anschluss an die gesellschaftliche Entwicklung verloren hatten? Waren sie schon im Diesseits so sehr mit ihrer eigenen Welt beschäftigt gewesen? Edgar nahm das Internet als Beispiel: In der letzten Lebensphase seiner Großeltern war das Internet in der breiten Bevölkerung schon gut eingeführt gewesen. Dennoch hätte er ihnen unmöglich erklären können, was das Internet überhaupt war. Einerseits hatte die Entwicklung des weltweiten Netzes so weit von ihren Alltagsnotwendigkeiten weg geführt, dass es vieler Vorerklärungen bedurft hätte; angefangen bei der Funktionsweise eines Computers, über jene einer Browsersoftware, bis hin zu den Anwendermöglichkeiten. Andererseits hätte es sie überhaupt nicht interessiert. Sie waren zufrieden mit dem, was sie hatten und deshalb hatten sie diesen Zustand wohl hier im Himmel zu ihrer eigenen heilen Welt ausgebaut. Das Ergebnis war ein Bereich, in dem es Seelen aus Edgars Generation nur für eine begrenzte Zeit aushielten.
Edgar dachte einen Schritt weiter. Seine Großeltern und ihre Altersgenossen mochte ihre heile Welt glücklich machen, denn sie hatten ein langes Leben mit extremen Höhen und Tiefen gehabt. Aber wie sah es mit den Seelen von Menschen aus, die, wie Edgar, relativ jung gestorben waren und hier in einem Bereich aufgingen, in dem sie ihre Talente, ihr Können und ihr Wissen anwenden konnten? Verloren die Seelen auf diese Weise ihren Bezug zur Tiefe des Lebens? Würde auch Edgar eines Tages seinen Platz in einem der Himmelsbereiche finden und stets dazulernen, wann immer neues Wissen den Himmel erreichte? Würde ihn das glücklich machen können und wenn ja, für wie lange? Über Jahrhunderte hinweg? Würde es ihm wie Andrea gelingen, auch die gesellschaftlichen Entwicklungen mitzumachen oder würde irgendwann der Punkt kommen, an dem er sagte: Das geht mir jetzt zu weit? Was würde dann mit ihm geschehen?
Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass die überwiegende Mehrheit aller Seelen, denen er seit seinem Tod begegnet war, erst seit wenigen Jahrzehnten hier war. Ging er von den Seelenjahren aus, also von der Anzahl der Jahre, die eine Seele bereits im Himmel war, bildeten jene mit einem Alter unter dreißig den Hauptteil. Von den älteren Seelen hatte er umso weniger angetroffen, je betagter sie waren. Solche im Alter zwischen siebzig und dreihundert Seelenjahren, wie Andrea, waren Ausnahmeerscheinungen, noch ältere, wie der vierhundertjährige Säufer in Edgars erster Stammkneipe, Einzelfälle; Exoten. Wenn der Himmel aber für die Ewigkeit angelegt war, wo waren dann all die älteren Seelen? Diese Frage entsprang weniger Edgars Neugier, als viel mehr einem egoistischen Interesse, zumal eines Tages auch er viele hundert Seelenjahre alt sein würde.
Wenn er an seine Großeltern dachte, die sich in einem eigenen Bereich abgekapselt hatten – lag da nicht der Schluss nahe, dass sich auch die anderen alten Seelen ihre eigenen Bereiche geschaffen hatten? Hieß das, dass Seelen, die etwa auf der Erde des vierzehnten Jahrhunderts gelebt hatten, sich hier in einem eigens erschaffenen Mittelalterbereich aufhielten? Würde er solche Bereiche des Himmels überhaupt betreten können? In den Bereich seiner Großeltern war er gelangt, weil er sich zu ihnen gewünscht hatte, er hatte also einen emotionalen Anknüpfungspunkt gehabt. Aber zu welcher Person aus dem zum Beispiel ersten Jahrhundert könnte er sich wohl wünschen? Zu einer berühmten historischen Figur? Zu Jesus?
Da schoss Edgar noch ein weiterer Gedanke durch den Kopf: Wenn er mit dieser Annahme Recht hatte, dann hatte der Himmel so etwas wie ein Baujahr, nämlich das Jahr Null. Das war logisch, immerhin war er ein christliches Konzept und bekam somit frühestens mit dem Tod des ersten Christen einen Sinn.

Mittlerweile hatte Edgar einen Aussichtspunkt erreicht, der ihm einen malerischen Blick über seine Bucht bot. Es war faszinierend, wie sehr das Ambiente seinem innersten Wesen entsprach. Als Mensch hatte er nie am Meer gelebt, doch wenn er nun auf seinen privaten Ozean hinabblickte, fühlte es sich so an, als sei an diesen Gestaden sein Elternhaus gestanden. Als er Andrea von diesen Gefühlen erzählt hatte, hatte sie gesagt, er hätte seine innersten Sehnsüchte räumlich interpretiert. Genau so fühlte sich das hier an.

Edgar setzte seinen Weg fort und knüpfte an den Gedanken von vorhin an. Er fragte sich, wo etwa die Seelen jener Menschen waren, die tausend Jahre vor Christi Geburt gelebt hatten. Abrupt blieb er stehen. Er konnte nicht fassen, dass er sich diese Frage bislang noch nie gestellt hatte, wo sie doch so nahe lag: Wo waren die Seelen aller Menschen nicht-christlichen Glaubens? Der nächste Gedanke lag nahe: Vielleicht war das hier gar nicht der christliche Himmel, aber konnte das möglich sein? Er ging weiter. Freilich, ganz deckte sich all das hier nicht mit dem, was er in der Schule über den Himmel erzählt bekommen hatte – über die ewige Glückseligkeit und so weiter –, aber im Wesentlichen doch. Außerdem hatte er bislang nur Seelen angetroffen, die auf der Erde in christlich geprägten Gesellschaften gelebt hatten.

Als Edgar den Gipfel erreichte, stand die Sonne tief und spiegelte sich knapp unter der Kimm im Meer. Sein Strand, seine Klippe und sein Wald waren so weit unter ihm, dass er nur noch ihre Konturen erkennen konnte. Hier heroben wehte eine steife Brise, kleine Eiskristalle bohrten sich wie winzige Nadelstiche in sein Gesicht. Es war kalt, aber nicht in unangenehmer Weise. Über ihm war der Himmel dunkelblau, fast schon schwarz, offenbar ragte der Gipfel bis an den Rand der Stratosphäre. Edgar setzte sich in den Schnee.
Mit seinen Gedanken über das Wesen des Himmels war er nicht weit gekommen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass religiöse Unterschiede das Jenseits abgrenzten, schließlich waren diese hier ohne Bedeutung. Er konnte sich ja nicht einmal erklären, warum er selbst hier war, immerhin war er im Leben kein praktizierender Christ gewesen. Zwar war er getauft und in der Pflichtschule in Religion unterrichtet worden, hatte an Erstkommunion und Firmung teilgenommen und kirchlich geheiratet, aber das war schon sein ganzer Kontakt mit dem Christentum gewesen. Ausgenommen vielleicht die christlichen Feste wie Weihnachten und Ostern, die er natürlich gefeiert hatte, aber weder seine Eltern noch seine Frau oder er selbst hatten die heilige Messe besucht, und wenn er bei Hochzeiten, Taufen oder ähnlichen Anlässen einer solchen beiwohnte, schwieg er höflich, weil er weder den Wortlaut der Gebete noch den Ablauf der Zeremonie kannte. Trotzdem war er nun hier.

Irgendwann erkannte Edgar, dass seine Vorstellung vom Aufbau des Himmels umso unwahrscheinlicher wurde, je mehr er darüber nachdachte. Vielleicht gingen seine Gedanken in eine grundsätzlich falsche Richtung? Es konnte aber auch sein, dass der Himmel in einer Weise beschaffen sein mochte, die dem menschlichen Verstand nicht ohne weiteres zugänglich war.
Mit einem Mal fiel ihm der Silberne ein, der ihm nach dem Tod die Tür ins Jenseits geöffnet hatte. Hatte der nicht so etwas gesagt wie, dem Menschen würden die Sinne fehlen, mit denen er die Zusammenhänge im Großen erkennen könne? Vielleicht war das der Grund, warum Edgars Grübeln zu nichts führte, außer, dass jeder Erklärungsversuch zu viele Widersprüche aufwarf, um wahr sein zu können.
Das frustrierte ihn, doch dann fragte er sich, warum er unglücklich sein sollte. Er war doch hier im Himmel und es konnte ihm egal sein, warum die Dinge so waren, wie sie waren, zumal er sie ohnehin nicht ändern konnte. Er verstand nun die Bedeutung von Freds Worten, als dieser gesagt hatte, Edgar solle nichts hinterfragen, sondern einfach nur genießen, was der Himmel ihm bot.
Edgar richtete den Blick nach oben und senkte ihn langsam zum Horizont hin, wobei er den Farbverlauf des Firmaments von Schwarz über Hellblau, Türkis und Orange bis hin zum gleißenden Gold der Sonne betrachtete. Vielleicht, so dachte er, fand im Himmel ja deshalb keine Entwicklung statt, weil zu wenig Wissen über dessen Natur vorhanden war. Vielleicht sollten die Seelen, die ihn bewohnten, nichts darüber erfahren. Aber konnte das sein? War Wissen tatsächlich verpönt, war es wirklich verboten, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen? Funktionierte die Magie des Wunscherfüllens nicht mehr, wenn man den Mechanismus erklären konnte, der ihm zugrunde lag? War die Wissenschaft tatsächlich der Feind des Glaubens?

Das Buchcover von 'Auf der anderen Seite' von Roland Zingerle zeigt einen FBI-Agenten im Jenseits, der eine letzte Aufgabe erfüllen muss.

Auf der anderen Seite

»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«

Wenn dich "Jenseits des Jenseits" fesselt, dann solltest du unbedingt auch den Roman "Auf der anderen Seite" lesen. Er setzt die Idee des Jenseits auf und bietet noch mehr Nervenkitzel und unerwartete Wendungen.

Das Buch ist mit neuem Layout als Kindle Ausgabe erschienen. Klicke auf diesen Link "Auf der anderen Seite" du wirst direkt zu Amazon.de weitergeleitet.