Kapitel 2: Warten … worauf?

Wenn ein Mensch stirbt, löst sich seine Seele vom Körper. Nur … wie kommt sie ins Jenseits?

Die nun folgende Zeit erlebte Edgar wie in einem Alptraum. Er saß auf demselben Besuchersessel wie vorhin, in sich zusammengesunken, und registrierte nur am Rande die Menschen, die vor ihm den Gang hinauf oder hinunter eilten. Obgleich er keinen Körper mehr hatte, nahm er sich dennoch körperlich wahr und deshalb fühlte er die Trauer auch in seiner Kehle, in seinem Bauch und in seinem Herzen.
Irgendwann ging die Tür gegenüber auf und eine Pflegerin schob ein Rollbett heraus, auf der eine mit einem weißen Tuch bedeckte menschliche Gestalt lag; sein Leichnam. Edgar folgte seinen sterblichen Überresten, als wäre dies ein kleiner, ganz privater Trauerzug, welcher in der Kühlkammer endete. Er blieb vor der Tür stehen und blickte leer vor sich hin. Neunundzwanzig Jahre lang war er mit diesem Körper aufgewachsen und hatte in ihm gelebt. Neunundzwanzig Jahre lang hatte er mit ihm eine Einheit gebildet und nie zwischen Körper und Seele unterschieden. In seiner Jugend war er stolz auf seine Muskeln gewesen. Betrieb er Sport, fühlte sich sein Körper gut an, war er krank, miserabel. Manchmal bereitete sein Körper ihm große Schmerzen, aber die meiste Zeit über nahm er ihn überhaupt nicht wahr. Jetzt war es so, als wäre er aus einem Kokon geschlüpft, den er nie als Kokon wahrgenommen hatte. Edgar fühle sich kein bisschen anders als am Tag davor, als er noch gelebt hatte. Sein Körper war nun weg, das musste er hinnehmen, aber es war nicht so, als hätte er einen Teil von sich verloren – es war so, als hätte er gar nichts verloren. Bis auf sein Leben, aber das zu akzeptieren war eher ein Problem des Verstandes als eines des Gefühls.
Er sah auf seine Hände hinab und drehte diese hin und her. Weder fühlte sich das anders an, noch sah es anders aus als mit Körper. Doch Edgar war klar, dass das nichts zu bedeuten hatte. Er war noch nicht lange tot und konnte deshalb den Zustand des Totseins noch gar nicht richtig begreifen, geschweige beschreiben. Viel mächtiger als dieses neue Selbstverständnis war die Verwirrung, das Zurecht-Kommen-Müssen mit der neuen Situation. Von einem Tag auf den anderen war er aus der Bahn geworfen worden, nichts, was gestern noch wichtig gewesen war, war es jetzt noch, absolut gar nichts. Allem voran hatte er Angst. Was würde nun mit ihm geschehen? War seine Seele noch an seinen Körper gebunden, so dass er nicht von hier weg konnte? Was war er jetzt? Eine Seele? War er überhaupt noch ein Mensch?

Edgar ging zu dem Besuchersessel zurück und setzte sich. Im Moment konnte er nichts anderes tun als zu warten, selbst wenn er nicht wusste, worauf. Irgendwann fiel sein Blick zu der Ausgangstür und da stellte er fest, dass es draußen mittlerweile dunkel geworden war. Einer langjährigen Gewohnheit folgend suchten seine Augen eine Uhr, bis ihm auffiel, wie lächerlich das war. Hatte er heute noch etwas vor? Er war tot, von jetzt an bis in alle Ewigkeit; was scherte ihn da die Zeit?
Mit der Nacht kehrte auch etwas Ruhe in dem Gang ein, in dem er saß, dennoch waren einige Menschen nach wie vor hier: Die Alte mit dem Arm in der Schlinge etwa, die noch immer jeden Vorbeikommenden um Hilfe anflehte, und der Jugendliche, der nach wie vor seine Beine präpotent in den Gang streckte. Doch nun, da Edgar sich diese Menschen näher ansah, stellte er fest, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. Sie verhielten sich wie eine Videoaufnahme, die ständig wiederholt wurde, aber weder Anfang noch Ende hatte. Zunächst konnte er sich keinen Reim darauf machen, doch als ein Pfleger ein Krankenbett in den Gang schob und damit zunächst durch die alte Frau mit dem verletzten Arm und dann durch die Beine des Jugendlichen hindurchfuhr, wurde Edgar klar, dass er nicht das einzige körperlose Wesen hier war. Spontan wollte er eine dieser Seelen ansprechen, doch er verwarf die Absicht gleich wieder. Er hatte Angst vor ihren Antworten, Angst vor dem, was sie ihm erzählen könnten. Es schien Edgar, als wäre er – obwohl er ganz genau wusste, wie es um ihn stand – noch nicht gänzlich dazu bereit, sich einzugestehen, dass er nun zu ihnen gehörte.
„Es ist in Ordnung!“ Auf dem Besuchersessel rechts neben ihm saß jemand; jemand mit einer tiefen und sonoren Stimme, die enorm beruhigend auf Edgar wirkte.
„Was ist in Ordnung? Ich bin tot!“
„Das ist schon in Ordnung so. Du bist tot und du weißt es. Damit hast du den ersten Schritt getan.“
Edgar sah ihn an und erkannte, wie anders er war. Zwar verfügte er über eine menschliche Gestalt, doch war er ungewöhnlich groß und seine Konturen verflossen silbern schimmernd ineinander. Vielleicht war er aber auch nur von einer silbernen Aura umgeben, die körperliche Merkmale wie Gesichtszüge, Haare und Extremitäten kaschierte. Dennoch erkannte Edgar so genau, mit welchem Gefühl der Fremde ihm begegnete, als würde er dessen Mienenspiel sehen.
„Mach dir keine Sorgen, du bist auf einem guten Weg.“
Edgar lachte kläglich. „Auf einem guten Weg? Ich habe meine Frau zur Witwe und meine Kinder zu Halbwaisen gemacht. Ich bin völlig sinnlos gestorben und du sagst, ich bin auf einem guten Weg?“
„Sinnlos? Für menschliche Begriffe vielleicht, aber es liegt nicht an uns zu bewerten, was geschieht.“
„Wieso nicht?“
„Weil uns die Sinne fehlen, mit denen wir die Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit erkennen könnten.“
„Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit“, zischte Edgar verächtlich, „glaubst du, dass die meine Frau momentan interessieren?“
„Ich bin nicht hier, um zu rechtfertigen, warum die Dinge so geschehen wie sie geschehen.“ Nicht Vorwurf oder Zurückweisung trugen die Stimme des Silbernen, sondern Verständnis und Erklärung. „Ich bin hier, um dich zu leiten. Sieh dich einmal um.“
Edgar glaubte zu sehen, dass der Fremde eine ausladende Geste vollführte, obwohl er offenbar keine Arme hatte – und mit einem Mal sah er alles mit anderen Augen. Die Frau mit dem eingebundenen Arm und der Jugendliche auf dem Boden sahen nun anders aus als die Menschen, die hier durchgingen. Sie wirkten nun wie Geistwesen auf ihn, ihre menschlichen Silhouetten schimmerten grünlich oder bläulich und schienen an den Rändern immer wieder zu zerfließen. Als er auf seine Hände hinabblickte, nahm er auch sie in dieser Weise nebulös, fast durchsichtig wahr.
„Was … was ist passiert?“
„Ihr seid keine Lebewesen im biologischen Sinne mehr.“
„Sind wir noch Menschen?“
„Ihr seid die Essenzen dessen, was ihr Menschen nennt.“
„Warum sehen wir trotzdem so aus wie Menschen?“
„Weil du keinen Grund hast, euch anders zu sehen, als du euch immer schon gesehen hast.“
„Aber wir haben ja keinen Körper, wie …“
„Hast du dich und deine Mitmenschen denn immer nur als Körper gesehen?“ Edgar starrte den Silbernen verdutzt an. „Als du verliebt warst“, begann dieser, „hast du das betreffende Mädchen da nicht anders gesehen als davor? Und als es vorbei war, hast du es da nicht auch wieder anders gesehen, als während der Zeit der Verliebtheit?“
„Schon möglich …“
„So ist es dir mit jedem Menschen ergangen, immer. Das Sehen mit deinen Augen war nur ein kleiner Teil deiner Wahrnehmung. Jetzt, wo du keine Augen mehr hast, nimmst du das Wesen der Dinge wahr, nicht ihre Erscheinungen.“
„Das bedeutet, wir alle hier sind tot?“
„Nicht alle. Dieser junge Mann dort“, er wies auf den Jugendlichen am Boden, „liegt noch im Koma. Er ist hirntot und medizinisch nicht mehr zu retten, aber das wollen seine Verwandten nicht wahrhaben.“
„Meine Güte, das ist ja …“
„Schrecklich, ich weiß.“
„Was ist mit ihm passiert?“
„Er hatte einen Motorradunfall. Vor fünf Jahren.“
„Vor fünf Jahren? Und er war die ganze Zeit über in diesem Gang?“
„In diesem Krankenhaus, ja. Seine beiden Beine sind abgetrennt, Maschinen halten ihn am Leben, und solange sein Körper funktioniert, kann hier nicht weg.“
„Wieso?“
„Weil die Seele an den Körper gebunden ist.“
„Aber er hat doch noch beide Beine.“
„Es ist sein Körper, dem die Beine fehlen, seine Seele ist vollständig.“
„Und die Frau da?“ Edgar zeigte auf die hilfesuchende Alte.
Der Silberne zögerte mit einer Antwort und Edgar spürte die Bitterkeit seiner Worte, als er fortfuhr: „Sie weiß noch nicht, dass sie tot ist.“
„Was soll das heißen?“
„Weißt du, viele Menschen sterben, ohne zu erkennen, was mit ihnen geschehen ist. Sie glauben, noch am Leben zu sein, verhalten sich wie Lebende und verstehen nicht, warum die wirklich Lebenden sie ignorieren.“
„Aber wie kann das sein? Ich meine, wenn niemand mehr auf mich reagiert und die anderen durch mich hindurchgehen können, da muss mir doch klar werden, dass da was nicht stimmt.“
„Es gibt viele, die ihren Tod nicht wahrhaben wollen und ihn deshalb verleugnen. Diesen Menschen können wir nicht helfen.“
Der Gedanke, dass es menschliche Seelen gab, denen nicht geholfen werden konnte, verschaffte Edgar Unbehagen. „Was meinst du damit?“
„Wir können nur Seelen beim Übertritt begleiten, die verstanden haben, dass sie tot sind und das auch akzeptieren. So wie du, deshalb sagte ich auch, dass deine Situation in Ordnung ist.“
Edgars Blick haftete noch immer auf der Hilfesuchenden. „Wie lange ist sie schon hier?“
Der Silberne zögerte, dann sagte er: „Einundzwanzig Jahre.“
„Einundzwanzig Jahre?“, entfuhr es Edgar laut, „und sie weiß noch immer nicht, dass sie tot ist? Wie kann denn das sein?“
„Sie fiel damals über eine Treppe, brach sich einen Arm und das Genick. Sie war auf der Stelle tot, ihre Seele glaubte aber, sie hätte sich nur die Hand verstaucht. Der Rettungswagen brachte ihre sterbliche Hülle hierher und da ihre Seele glaubte, noch an ihren Körper gebunden zu sein, kam sie mit. Sie glaubte, sie sei hier, um ihren Arm untersuchen zu lassen, und versucht seither, das Personal auf sich aufmerksam zu machen.“
„Kommt ihr nach einundzwanzig Jahren nicht in den Sinn, dass, dass …“
„So wie auch du am Anfang, will sie nicht wahrhaben, dass sie gestorben war. Im Gegensatz zu dir konnte sie nie akzeptieren von ihrem Haus, ihrer Familie, ihren Freunden und allem anderen Vertrauten für immer getrennt zu sein. Aus Angst vor dieser Wahrheit klammert sie sich so an die Vorstellung, noch am Leben zu sein, dass sie das Offensichtliche ausblendet.“
Edgar sah die Alte erschüttert an. „Wie lange kann es dauern, bis sie die Wahrheit begreift?“
„Es gibt Seelen, die sich jahrhundertelang selbst anlügen“, erklärte der Silberne.
„Was ist mit ihm?“ Edgar deutete einmal mehr auf den Jungen am Boden. „Weiß er Bescheid?“
„Er weiß Bescheid, aber es sind Menschen, die ihn hier halten, da können wir nichts tun. Eine tragische Sache.“
„Meine Güte, es muss die Hölle sein, Tag für Tag und Jahr für Jahr hier herumzuhocken in dem Wissen, dass es vielleicht noch Jahrzehnte so weiter gehen kann.“
„Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Am Anfang, ja, da glauben alle, die Ewigkeit würde sie verrückt machen. Aber spätestens wenn sie erkennen, dass es nichts mehr gibt, das sie erledigen müssten, wird die Ewigkeit zu einem Zustand, den sie als das hinnehmen, was er nun einmal ist. Besonders dieser junge Mann hat sich ganz gut in seiner Situation eingerichtet.“
Wie auf ein Stichwort hin schlurfte die Seele eines weiteren jungen Mannes vorbei, der Edgar und dem Silbernen zunickte und sich dann zu dem am Boden Sitzenden stellte. Die beiden begrüßten einander mit einer komplizierten Abfolge von Handschlägen und begannen ein Gespräch, wobei sich der Neuankömmling lässig an die Wand lehnte. Als ein Arzt vorbeikam, tat der Stehende so, als wollte er ihm ein Bein stellen, aber natürlich fuhr das Bein des Arztes ohne Widerstand durch das der Seele hindurch. Trotzdem lachten die beiden jugendlichen Seelen über den Versuch.

Das Buchcover von 'Auf der anderen Seite' von Roland Zingerle zeigt einen FBI-Agenten im Jenseits, der eine letzte Aufgabe erfüllen muss.

Auf der anderen Seite

»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«

Wenn dich "Jenseits des Jenseits" fesselt, dann solltest du unbedingt auch den Roman "Auf der anderen Seite" lesen. Er setzt die Idee des Jenseits auf und bietet noch mehr Nervenkitzel und unerwartete Wendungen.

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