Kapitel 27: Von Träumern und dem lieben Gott

Edgar freundet sich mit Ebenezer an, der ihm eine neue Seite des Himmels zeigt. Davor taucht jedoch ein Träumer auf.

Bevor Edgar Ebenezer antworten konnte, erschien auf dem Sessel zwischen ihnen eine Seele. Zwar hatte sich Edgar längst schon an das jederzeitige Auftauchen und Verschwinden von Seelen allerorts gewöhnt, doch war er so in das Gespräch mit Ebenezer vertieft gewesen, dass er nun erschrak. Anfangs, als er neu im Himmel angekommen war, hatte sich Edgar wegen solcher Zwischenfälle noch in seiner Privatsphäre gestört gefühlt. Bald jedoch hatte er begriffen, dass er im Himmel nur dann eine Privatsphäre hatte, wenn er sie sich ausdrücklich wünschte; wie etwa in seinem Refugium. Ansonsten war das plötzliche Auftauchen anderer Seelen kein Ärgernis, sondern Normalität und es gab ja auch keine Geheimnisse zwischen den Seelen. Peinliche Szenen gab es nur, wenn entweder die auftauchende oder die dadurch überraschte Seele erst kurz davor im Himmel angekommen war, also noch wenig Erfahrung mit dem Leben nach dem Tod hatte. Himmelserfahrene Seelen hatten selbst schon so viel ausprobiert, dass es kaum Situationen gab, die ihnen peinlich war, wenn sie in sie hineinplatzten. Und falls doch, waren sie nur selbst noch nicht auf die Idee gekommen, eine solche Situation selbst auszuprobieren. Der Neuankömmling in de Schattenbühne hatte indianische Gesichtszüge. Er blinzelte und sah sich um, wobei seine Blickwechsel hastig waren; fahrig. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Edgar. Der Fremde lächelte, nickte und antwortete mit einem seltsamen Akzent: „Ich weiß nicht … ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin.“ Edgar war erstaunt. Er hatte im Himmel die Seelen von Menschen aller Hautfarben angetroffen, aber noch nie eine, die mit einem Akzent gesprochen hätte. „Wohin wollten Sie denn?“ „Nirgendwohin. Ich war gerade im Rodrigues-Álvez-Park und plötzlich … war ich hier.“ „Wie bitte? In welchem Park? Ich meine, in welchem Bereich?“ Das Gesicht des Neuankömmlings spiegelte Edgars Fassungslosigkeit wider. „Natürlich in Belém“, antwortete er mit beunruhigter Stimme, „wo bin ich denn hier?“ „Sie sind hier in der Schattenbühne. Übrigens, mein Name ist Edgar.“ „Paolo. Ich … ich weiß nicht …“ „Sie träumen“, schaltete Ebenezer sich in das Gespräch ein, „das kommt immer wieder einmal vor.“ Paolo riss ungläubig die Augen auf. „Träumen? Oxford – bin ich hier in Oxford?“ Edgar spürte, wie sich Paolos Verwirrung auf ihn übertrug. „Wie kommen Sie auf Oxford? Sie sind im kulturellen Bereich. Im Himmel.“ Paolo schien ihn nicht richtig wahrzunehmen. „Als junger Mann habe ich in Oxford studiert“, begann er, „ich war jahrelang dort, habe viele Freundschaften geschlossen. Auch später war ich oft in England, es war mir wie eine zweite Heimat.“ „Und woher stammen Sie?“ Edgar wollte nicht nur die Situation klären, er wollte auch das Rätsel um Paolos Akzent lösen. „Aus Brasilia, aber in letzter Zeit bin ich oft in Belém.“ „Sie meinen Brasilien? Das echte Brasilien?“, rief Edgar überrascht. Ebenezer lächelte wissend. „Ja, Brasilien“, meinte Paolo geistesabwesend, „zumindest das Brasilien, das wir uns alle wünschen.“ Er sah sich noch einmal um und wandte sich dann an Ebenezer: „Sie haben Recht, ich träume. Genauso fühlt es sich an, wenn man …“ So unvermittelt wie er aufgetaucht war, verschwand Paolo wieder. Edgar war verstört von dem Vorkommnis, doch Ebenezer lachte. Er rückte auf den Sitz, auf dem Paolo gerade gesessen war, und begann mit heiterer, ruhiger Stimme zu erklären: „Mach dir keine Sorgen, das ist ganz normal. Es kommt nicht oft vor, aber doch immer wieder einmal.“ „Ich habe so etwas noch nie erlebt“, stotterte Edgar, „was war das?“ „Das, lieber Freund, ist unsere einzige Möglichkeit, mit dem Diesseits zu kommunizieren. Theoretisch zumindest.“ „Was? Wie?“ „Das war ein Träumer. Sein Körper liegt irgendwo in der brasilianischen Stadt Belém und schläft. Seine Seele geht dabei auf Wanderschaft und kommt auf eine Stippvisite ins Jenseits.“ „Du meinst, wann immer ich als Mensch von phantastischen Orten geträumt habe, dann war meine Seele in Wirklichkeit hier?“ „Nein, sicher nicht. Denn wenn jede träumende Seele im Himmel vorbeikäme, dann hätten wir diese Besuche wohl regelmäßig. Niemand weiß, wie das genau abläuft, aber ab und zu kommt jemand zu uns und ist darüber verwirrt, was mit ihm passiert. So wie unser Freund gerade eben.“ „Als lebender Mensch habe ich immer wieder davon gehört, dass Leute im Traum ihren verstorbenen Verwandten begegnet seien und mit ihm gesprochen hätten. Ich selbst habe einmal von einem Ort geträumt, den ich erst zwei Jahre später besucht habe. Waren das alles solche Traumerlebnisse?“ Ebenezer hob die Schultern. „Vielleicht ja, vielleicht nein.“ Edgars Unzufriedenheit über diese Antwort zeichnete sich wohl auf seinem Gesicht ab, denn Ebenezer lachte erneut. „Sieh nicht alles so eng. Wir müssen schließlich nicht alles wissen, was zwischen Himmel und Erde so abläuft, oder?“ „Mich interessiert das schon“, Edgars Stimme klang ein wenig eingeschnappt. „Wie ist das eigentlich umgekehrt? Ist es schon einmal vorgekommen, dass eine Seele aus dem Himmel die Welt der Sterblichen besucht hat?“ Ebenezers bekam einen merkwürdigen Blick und er zögerte mit seiner Antwort. „Nicht so direkt. Aber hin und wieder kommt es vor, dass Seelen davon berichten, sie seien eingeschlafen und hätten von exotischen Orten geträumt.“ „Eingeschlafen? Ohne es sich gewünscht zu haben?“ „Ja, auch das kommt vor; selten aber doch. Man nennt es ‚Seelenschlaf‘. Schlafende Seelen träumen fast immer von Orten, zu denen sie in ihrem Erdenleben eine besondere Beziehung hatten.“ „Das heißt, sie besuchen die Welt der Lebenden?“ „Nein, die Orte, von denen diese Seelen berichten, scheinen eher die Himmelsversion jener Orte zu sein, zu denen sie eine besondere Beziehung haben. Es dürfte wohl so sein, dass sie wirklich nur träumen und ihre Reise das Produkt ihrer Phantasie ist.“ „Aber wie kann es sein, dass eine Seele einschläft?“ „Du fragst zu viel, Edgar, das ist nicht gut.“ Ebenezers Stimme war kalt, beinahe misstrauisch, sein Blick war kritisch. „Der Himmel ist kein Ort für Fragen. Alles, was du wissen musst, ist bereits in dir und alles, was du haben willst, kannst du dir erschaffen. Was du nicht weißt, brauchst du nicht zu wissen und was du dir nicht erschaffen kannst, ist verboten. So einfach ist das.“ Edgar spürte zwei Dinge: Erstens, Ebenezer meinte nicht wirklich, was er sagte. Er mochte seine Meinung von anderen übernommen haben, jedenfalls kam sie nicht aus seinem Herzen. Zweitens, Ebenezer würde momentan keine weitere Frage mehr beantworten. Das war schade, denn Edgar wollte noch immer wissen, warum Paolo mit einem Akzent gesprochen hatte. So unterschiedlich die Seelen auch waren, die er bisher im Himmel angetroffen hatte, eines war ihnen allen gemeinsam: In ihren irdischen Leben hatten sie das Christentum als die prägende Religion jener Kultur angesehen, der sie sich zugehörig fühlten. Doch egal, ob die Seele in ihrem irdischen Leben ein schwarzer Italiener, ein weißer Puerto Ricaner oder ein gelber US-Amerikaner gewesen war, sie alle sprachen hier ohne jegliche Dialekteinfärbung. Deshalb war Edgar schließlich in Salvador Dalís Ausstellung zu der Erkenntnis gelangt, dass sich die Frage nach der Sprache hier nicht stellte, dass Seelen miteinander auf einer Ebene kommunizierten, auf der sprachliche Unterschiede, wie er sie von der Erde kannte, keine Rolle spielten. Unbewusst schüttelte er den Kopf. Wann immer er glaubte, schon alles über den Himmel zu wissen, erfuhr er wieder etwas Neues. Edgar verstand sich auf Anhieb gut mit Ebenezer. Dieser war freundlich und sein rauer, englisch gefärbter Humor gefiel Edgar. Ebenezer erzählte, wie sich die Handlung des dreidimensionalen Schattenspiels in den vergangenen zwei Monaten entwickelt hatte, denn so lange saß er schon hier, dann beschlossen beide, auf ein Glas Ale in Ebenezers Stamm-Pub zu gehen. Als sie dort erschienen, empfand Edgar das Ambiente als laut, eng und gemütlich. Ohne dass sie es abgesprochen hatten, wünschten sich beide, dass der Alkohol wirken sollte, so dass ihre Unterhaltung mit jedem weiteren Pint noch ausgelassener wurde. Ebenezer hatte im neunzehnten Jahrhundert in der englischen Grafschaft Kent gelebt. Als Lord hatte er einige der englischen Kolonien bereist, was ihm großen Spaß bereitet hatte. Nicht zuletzt deshalb durchstreifte er seit seinem Tod auch den Himmel, stets auf der Suche nach einem neuen, immer noch außergewöhnlicheren Erlebnis. Dieses Nomadentum, so sagte er, sei die einzige Lebensweise, die für ihn im Himmel vorstellbar sei. „Ich habe auch noch keinen Bereich gefunden, in dem ich auf Dauer glücklich werden könnte“, stimmte Edgar zu. „Im Gegenteil, wenn ich mir ansehe, wie manche Seelen hier die Ewigkeit verbringen, kriege ich das nackte Grausen.“ „Da sagst du was“, pflichtete Ebenezer bei, „denk nur einmal an all die Künstler hier: Schuften wie die Idioten in Spelunken, als müssten sie die Miete für ihre Mauselöcher verdienen. Und in der wenigen Freizeit, die sie sich lassen, tun sie dann endlich das, was sie eigentlich wollen: Sie gehen ihrer Kunst nach. Gottes Tiergarten ist groß.“ Edgar zuckte mit den Achseln. „Wenn es sie glücklich macht …“ Er nahm einen großen Schluck von dem schaumlosen, bernsteinfarbenen Bier. „Aber macht es sie denn glücklich?“, fragte Ebenezer. Der Alkohol schien seine Augäpfel hervorquellen zu lassen. „Ich weiß es nicht. Mich würde es nicht glücklich machen. Aber ich bin ja auch kein Künstler.“ „Zu meiner Zeit konnte man einen Künstler glücklich machen, wenn man ihm die materiellen Sorgen abnahm. Für die wäre der Himmel … nun ja, der Himmel gewesen.“ Ebenezer kicherte. „Apropos, welches Jahr schreibt man gerade im Diesseits?“ Edgar zuckte erneut mit den Achseln. „Keine Ahnung. Es ist schon einige Zeit her, dass ich einen Frischverstorbenen getroffen habe, den ich nach dem Jahr hätte fragen können. Warum?“ „Nur so. Ab und zu interessiert es mich, wie lange ich hier schon mein Unwesen treibe. Beim letzten Mal waren es einhundertachtundvierzig Jahre, aber das ist auch schon wieder eine Weile her.“ „Und du bist die ganze Zeit über von einem Bereich zum nächsten gewandert?“ „Mehr oder weniger. Eigentlich habe ich mich treiben lassen. Wenn es mir wo gefallen hat, habe ich mich niedergelassen, wenn es mir nicht mehr gefallen hat, bin ich weitergezogen. Es gibt eine ganze Menge Seelen, die das so handhaben.“ „Bist du jemals Gott begegnet?“ Ebenezer lachte spöttisch auf. „Junge, glaubst du noch an den Weihnachtsmann? Du bist echt noch nicht lang hier.“ Es begann Edgar auf die Nerven zu gehen, diesen Satz gesagt zu bekommen! Wie lange musste er denn tot sein, um endlich als himmelserfahren zu gelten? Er wollte Ebenezer zurechtweisen, doch dieser sprach bereits weiter: „Niemand ist je Gott begegnet, der alte Herr lässt sich hier nämlich nicht blicken. Da haben uns die Pfaffen im Leben vor dem Tod eindeutig falsche Versprechungen gemacht.“ Bereich mit Anhängen

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