Kapitel 6: Impressionen

Alles, was Edgar im Himmel begegnet, wirft neue Fragen für ihn auf, die Fred an die Grenze seiner Geduld bringen. Doch zu Erkenntnissen gelangt man nur, indem man erlebt.

„Du hast Recht, ich bin tatsächlich im Himmel“, schrie Edgar eine halbe Stunde später in Freds Ohr und lachte. Sie saßen im obersten Tribünenbereich eines Fußballstadions, das so riesig war, dass Teile der gegenüberliegenden Ränge von vorbeiziehenden Wolken verdeckt wurden. Fred hatte Edgar aufgefordert mit ihm zu kommen, er wolle ihm etwas zeigen. Dieser hatte eingewilligt und mit einem Mal hatte sich die Wohnstraße, in der Edgar gelandet war, in einen vielfarbigen Nebel verwandelt, der sich zu diesem Stadion zusammengesetzt hatte. Edgar hatte sich nicht bewegt, zuerst war er auf der Straße gestanden und im nächsten Augenblick auf der Tribüne gesessen. Trotz der ungeheuren Entfernung zum Spielfeld, Edgar schätzte sie auf mehrere Kilometer, konnte er problemlos die Spieler erkennen. Mehr noch, er sah die Farben der Trikots, die Nummern darauf, ja selbst die Gesichtszüge jedes einzelnen Spielers und ob er rasiert war oder nicht. Er fragte sich, wie das möglich sein konnte, doch dann erinnerte er sich an Freds Aufforderung, nichts zu hinterfragen sondern einfach nur anzunehmen, was ihm geschenkt wurde. Dass Edgar das nicht leicht fiel, lag auch daran, dass da unten sein Lieblingsverein HSV gegen seinen Lieblingsgegner FC Bayern ein Finalspiel austrug, bei dem der HSV drei Tore Vorsprung hatte. Erfreut stellte er fest, dass auch Fred die HSV-Farben auf Schal und Kappe trug, so wie alle in diesem Sektor. „Du bist HSV-Fan?“ „Bist du verrückt? Ich stehe auf Schalke 04, so wie du auch, siehst du doch.“ Fred wedelte mit dem Ende seines Schals vor Edgars Gesicht. Dass seine Empörung nur gespielt war, erkannte Edgar spätestens, als Fred gackernd auflachte. „Keine Sorge, das passt schon so. Hier sieht jeder seinen persönlichen Lieblingsclub, wie er seinen persönlichen Angstgegner im Finale plattmacht.“ „Willst du damit sagen, dass da unten gar nicht die Hamburger gegen die Bayern kicken?“ „Für dich schon. Aber für mich vernichtet Schalke 04 gerade den FC Barcelona. Und für den Typ da vor uns besiegt vielleicht gerade Fluminense Rio de Janeiro den AFC Hintertupfing. Verstehst du?“ Edgar nickt und lächelte säuerlich. Er empfand es als unbefriedigend, dass der HSV nicht als einziger siegte, doch er verstand immer mehr, warum er die Dinge nicht hinterfragen sollte. Dass schon eine einzige Erkenntnis ausreichen konnte, um den Zustand des Glücklichseins zu zerstören, wusste er, seit er im Religionsunterricht in der Grundschule die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies gehört hatte. „Wie kommt’s, dass das Stadion rammelvoll ist? Es kann ja wohl nicht sein, dass so viele tausend Seelen gleichzeitig ein Fußballmatch sehen wollen, oder doch?“ Trotz des enormen Lärms der Schlachtenbummler, und das fiel Edgar erst jetzt auf, konnten sich er und Fred in normaler Gesprächslautstärke unterhalten. „Nein, natürlich nicht. Wann immer sich eine Seele ein Match wünscht, findet eins statt. Die wenigsten Zuseher hier sind echte Seelen, weißt du? Die leeren Plätze werden mit Figuren aufgefüllt.“ „Figuren?“ „Künstlich erschaffene Zuseher, die sich wie Seelen verhalten.“ „Ich kann mir hier Seelen erschaffen?“ Fred sah Edgar mit forschendem Blick an. Er hatte dessen Absicht wohl in der Stimme gehört und las sie nun in seinem Gesicht. „Denk gar nicht erst dran“, sagte er eindringlich, „du machst dich damit nur unglücklich.“ Edgar lief ein Schauer über den Rücken. Er spürte, dass sein Führer Recht hatte, doch das änderte nichts daran, dass er der Sehnsucht nach seiner Familie völlig hilflos ausgeliefert war. Die Vorstellung, Heike und die Kinder hierher holen zu können, und war es auch nur in Form von Figuren, machte den Himmel für ihn erst so richtig vollständig. Doch als sein Blick über die johlende Menge in dem Riesenoval vor und unter ihm schweifte, wusste er, dass das ein Trugschluss war. Er würde Figuren erschaffen, die vielleicht wie Heike, Matthias und Anni aussahen, die aber genauso unecht und hohl wären, wie das gesamte Fußballmatch hier. Sie würden ihn nicht glücklich machen, im Gegenteil, sie würden ihn daran erinnern, was er verloren hatte und die Erinnerung an seine echte Familie verfälschen. Edgar erkannte, dass er einen Weg finden musste, um mit seinem vergangenen Leben abzuschließen. Er brauchte seine Familie ja nicht gleich zu vergessen, doch er musste sie gehen lassen – er musste sich selbst gehen lassen. Als das Spiel vorüber war, verließen Edgar und Fred mit anscheinend Millionen anderen Zuschauern das Stadion. Edgar hatte nach einem Fußballspiel noch nie eine solche Hochstimmung erlebt, doch das war kein Wunder, immerhin hatte der Lieblingsklub jedes Einzelnen gerade den jeweils größten Gegner im Meisterschaftsfinale besiegt. Und obwohl er wusste, dass es nur in seinen Augen so aussah, erfüllte es Edgar dennoch mit Genugtuung, dass all die vielen, vielen Fans die Farben des HSVs trugen. Das erinnerte ihn an eine Frage, die ihm seit seiner Ankunft auf der Zunge brannte: „Fred, wie kommt es, dass wir hier menschliches Aussehen haben? Als Seelen sind wir doch körperlos, oder?“ „Ja, natürlich.“ Freds Mimik unterstrich seine abgehackte Art zu sprechen. Er nickte hastig, sah Edgar an und wieder von ihm weg, um ihn gleich danach wieder anzusehen, wobei die Brillengläser seine Augen größer erscheinen ließen, als sie waren. In seinem Gesicht zuckt es. „Dass wir menschlich aussehen, liegt wahrscheinlich daran, dass wir an diesen Anblick gewöhnt sind.“ „Wahrscheinlich?“ „Ja. Vielleicht sind es aber auch unsere Seelen, die so aussehen und im Leben unten haben sich unsere Körper danach gebildet?“ „Heißt das, du weißt es nicht?“ Fred lachte zischend, ein Zeichen von Ungeduld. „Niemand weiß es und es ist auch egal. Wenn du dich in ein Krokodil verwandeln möchtest, bitte sehr, dann siehst du aus wie ein Krokodil. Aber fühlen wirst du dich weiterhin wie ein Mensch. Du kannst hier alles verändern, aber nicht, was du bist.“ „Wie ist das mit dem Altern?“ „Was soll damit sein?“ „Ich meine, wir sehen doch gleich alt aus, wie wir auf der Erde ausgesehen haben, als wir gestorben sind.“ „Aber nicht die Spur! Ich habe mit neunundsiebzig den Löffel gereicht und jetzt sieh mich an.“ Fred sprang, sich um seine Hochachse drehend, herum und schnippte mit den Fingern über dem Kopf. „Frisch, wie aus dem Ei gepellt.“ „Du bist neunundsiebzig?“ „Unsinn! Neunundsiebzig war ich, als ich gestorben bin, aber das ist schon eine ganze Weile her.“ „Wie lange?“ „Weiß ich nicht. Hör zu“, Fred wirkte genervt, „ich weiß ja, dass das für dich alles neu ist und dass du noch alles mit den Augen eines Sterblichen siehst und so weiter. Aber glaub mir, die Fragerei geht einem mit der Zeit ganz schön auf den Sack. Deine Seele ist unsterblich, verstehst du? Zeit spielt keine Rolle mehr – Willkommen in der Ewigkeit! Ob ich gestern hier gelandet bin oder vor tausend Jahren – was macht das schon? Hier sehe ich immer so aus wie in meinen besten Jahren, weil ich mich auch so fühle. Das hier ist mein echtes Aussehen, so habe ich auch an meinem letzten Tag auf der Erde ausgesehen.“ Edgar hielt inne und blinzelte irritiert. Er wusste, Fred wollte ihm etwas mitteilen, doch er verstand die Botschaft nicht. Aber nachzufragen getraute er sich nicht, da er seinen Begleiter nicht verärgern wollte. Fred schien die Misere zu erkennen. Er deutete auf sich selbst und erklärte: „Das hier bin ich, so wie ich wirklich aussehe. Als Lebender hat sich mein Körper viel schneller verändert, als meine Seele. Ich weiß nicht, ob wir mehrere Leben haben, aber ich weiß, dass die Seele schon bis zu einem gewissen Grad entwickelt ist, wenn wir geboren werden. Und dann lernt sie.“ „Was lernt sie?“ „Sie lernt vom Leben, von den guten und von den bösen Erfahrungen. Wenn wir sterben, hat unsere Persönlichkeit eine gewisse Reife erreicht, sie ist … wie soll ich sagen? Ich denke, es geht darum, dass wir unser Handeln kritisch hinterfragen und aus unseren Fehlern lernen können.“ Edgar lachte unwillkürlich auf. „Entschuldige“, sagte er, „aber ich kenne da Menschen, ich meine Lebende, die völlig unfähig sind, zu lernen. Manche von denen sind schon in Pension.“ Freds Nase zuckte unter seiner Brille. „Solche wirst du hier nicht antreffen. Unentwickelte Seelen bekommen offenbar keinen Zutritt zum Himmel.“ Er musterte Edgar für ein paar Sekunden und erkannte wohl dessen Verwirrung, denn er legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Ede, ich mache dir einen Vorschlag. Das alles hier ist sehr viel für dich, das weiß ich. Du warst lange Zeit im Einheitsweiß komplett isoliert und jetzt bricht alles auf einmal über dich herein. Gönn dir eine Auszeit. Zieh dich an einen Ort zurück, an dem du Ruhe findest und lass einmal alles auf dich wirken. Und probiere das Wünschen aus, du wirst schnell in Übung kommen und es wird dir gefallen. Wenn du mich brauchst, wünsch dir einfach mich zu sehen, und schon bin ich bei dir – oder du bei mir. Eines rate ich dir aber in aller Strenge: Lass deine noch lebende Familie aus dem Spiel. Wünsch dich an keinen Ort, der mit ihr in Verbindung steht, damit fügst du dir nur Leid zu. Du musst akzeptieren, dass diese Zeit vorbei ist und nicht mehr wieder kommt. Du kannst hier tun, was immer du willst, aber du kannst nichts ungeschehen machen. Wenn die Mitglieder deiner Familie eines Tages sterben, wirst du sie vielleicht wiedersehen, aber ich sage dir jetzt schon: Erwarte diesen Augenblick nicht! So, wie es einmal war, wird es nie wieder sein.“ Edgar spürte einen Kloß in seinem Hals. „Ich weiß nicht, wie ich das machen kann.“ „Es wird besser mit der Zeit. Vorerst wünsche dich an einen Ort, an dem du du selbst bist, unbeeinflusst von irgendetwas oder irgendjemandem.“ „Was für ein Ort soll das sein?“ „Ein Ort, von dem du schon in deiner Kindheit geträumt hast. Ich meine diese besondere Art von Umgebung, die du ganz tief in deinem Inneren erahnst, diese märchenhafte, nicht wirklich fassbare. Dort bist du im Kern deiner selbst, dort lenkt dich nichts ab.“ „Ich weiß nicht … ich weiß nicht, wie …“ „Du musst nichts wissen oder tun, du musst nur das Gefühl in dir finden, das damit zusammenhängt. Dann wünschst du dich in dieses Gefühl hinein – und das war‘s.“ Edgar konnte Freds Worte nicht bewusst begreifen, doch er fühlte eine Ahnung in sich hochsteigen. Ganz tief in ihm, kaum fassbar für sein Bewusstsein, gab es die unbestimmte Vorstellung von einer Art Ur-Wald, eine vom Menschen unberührte natürliche Gegend, die gleichermaßen verwunschen wie zauberhaft war und in der alles möglich schien, egal wie unsinnig es dem Verstand auch scheinen mochte. Diese vage Vorstellung lag so tief in Edgar und fühlte sich so selbstverständlich wie ein Teil von ihm an, dass er davon ausging, schon mit ihr zur Welt gekommen zu sein. Fred musterte Edgars Gesichtszüge und grinste hintergründig. „Wie sieht sie aus, deine Umgebung?“ „Ich … ich weiß nicht genau. Aber die Gefühle, die ich damit verbinde, sind so heimelig, so intensiv vertraut und sie … sie wurzeln so tief in mir, dass … Ich fühle mich so innig damit verbunden, wie vielleicht ein Fötus die Verbindung mit seiner Mutter empfindet.“ „Es ist das Zuhause deiner Seele“, erklärte Fred, „dort bist nur du.“ „Dort möchte ich sein!“ Kaum hatte Edgar den Wunsch ausgesprochen, verloren die Konturen um ihn herum an Schärfe und gleich darauf zerfloss die ganze Umgebung zu einem vielfarbigen Nebel. „Siehst du? Wirkt schon“, sagte Fred, dann war auch er nur noch ein Gewölk aus den Farben seines Äußeren, die mit den Farben aller übrigen Gestalten, Gebäude und Gegenstände im Umkreis ineinanderflossen, sich zu anderen Farbtönen mischten und sich dann neu anordneten, um die Konturen jener Umgebung zu erschaffen, in die Edgar sich gewünscht hatte.

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