Kapitel 8: Seelenkörper

Nachdem er mit Fred die unglaublichsten Sportarten ausprobiert hat, erkennt Edgar die Notwendigkeit der körperlichen Erscheinung seiner Seele. Er trifft auf verstorbene Prominente vergangener Epochen – die er gar nicht kannte.

Das Fußballspielen tat Edgar gut und selbst wenn er wusste, dass dies unmöglich war, weil er ja in Wirklichkeit keinen Körper hatte, so war es dennoch die Bewegung, die sein Wohlbefinden steigerte; er kannte dieses Gefühl ganz genau. Auch geriet er außer Atem, allerdings stellte er fest, dass ihn das nicht bremste, seine Kraftreserven schienen unendlich zu sein.
Die anderen jungen Männer auf dem Bolzplatz waren fröhliche, lustige Gesellen, die in etwa auf seinem Niveau Fußball spielten. Da Edgar nicht an einen Zufall glaubte, versuchte er herauszufinden, bei welchen dieser Männer es sich um echte Seelen handelte und bei welchen um Figuren, die Fred oder er selbst erschaffen hatten, um zwei Mannschaften vollzukriegen. Doch nach einiger Zeit gab er es auf, er fand einfach keinen Anhaltspunkt, wie er einen Unterschied hätte feststellen können.
Also erinnerte er sich an das, was Fred ihm anempfohlen hatte: genießen, nicht hinterfragen. Im Grunde war es doch egal, ob Edgar hier mit echten Seelen kickte, oder mit eigens dafür erschaffenen, die danach wieder im Nichts verschwanden, Hauptsache war doch, dass es Spaß machte. Zwar kam ihm diese Betrachtung reichlich oberflächlich vor, doch soweit er den Himmel bisher kennengelernt hatte, schien sich hier alles am Grundprinzip Spaß zu orientieren.
Edgar hegte keinen Zweifel daran, dass er sich an diese Lebensweise gewöhnen würde, so wie er sich jetzt schon an viele Dinge gewöhnt hatte, die ihm als Lebender unmöglich gewesen wären. Das Ausbleiben von Schlaf zum Beispiel. Schlaf war etwas, das der menschliche Körper benötigte, um seine Organe zu regenerieren. Da Edgar keinen Körper mehr hatte, brauchte er offenbar auch keinen Schlaf mehr, denn seit seinem Tod hatte er nicht eine Sekunde geschlafen und war auch nicht eine Sekunde lang müde gewesen.
Oder das Vergehen der Zeit. Edgar konnte nicht einmal schätzen, wie lange er mit Fred und den anderen Fußball gespielt hatte, als sie einhellig beschlossen, damit aufzuhören. Hatte ihn diese Zeitlosigkeit anfangs noch beunruhigt, so fand er mittlerweile Gefallen daran. Er genoss es, so lange wie er mochte Dinge zu tun, die er gerne tat, ohne auf die Uhr sehen zu müssen.

„Wie sieht’s aus, gehen wir duschen?“, fragte Edgar Fred außer Atem und schlug ihm lachend auf die Schulter.
Dessen Augen weiteten sich, dann zuckte seine Oberlippe und er schüttelte den Kopf. „Du … Mensch“, rief er, als wäre es ein Schimpfwort. „Wann wirst du endlich begreifen, dass das da kein Körper ist?“
„Das verstehe ich schon, aber Duschen fühlt sich trotzdem gut an.“
Fred musterte ihn kurz, dann meinte er schulterzuckend: „Gut, gehen wir duschen!“ Einen Augenblick später sprühte heißes Wasser in ihre Haare und rann über ihre Schultern. „Unglaublich.“ Fred klang einsilbig und wie in Gedanken. „Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal geduscht habe.“
„Da hast du eindeutig was verpasst.“ Edgar aalte sich in seinem Genuss.
„Ich denke, das werde ich in Zukunft wieder öfter tun.“
Mehrere Sekunden lang war nichts zu hören, außer dem Rauschen des Wassers. Freds einsilbige Reaktion hatte Edgar nachdenklich gestimmt und eine Vermutung in ihm aufkeimen lassen. „Fred, sag einmal … kann es sein, dass man sich im Laufe der Zeit hier Gewohnheiten aneignet, in denen man sich selbst gefangen hält?“
„Was meinst du?“
„Du hast gesagt, du hättest schon lange nicht mehr geduscht und du würdest es in Zukunft wieder öfter tun. Klingt für mich nach einer Gewohnheit, die du durch eine andere ersetzen willst.“
„Ich glaube, das sucht sich jeder selbst aus.“
Edgar spürte förmlich, wie Fred ihm auswich, deshalb hakte er nach: „Erklär’s mir!“
Freds Blick verfinsterte sich, er presste die Lippen aufeinander. Es schien, als wägte er ab, was ihm unangenehmer war: über dieses Thema zu reden, oder die Scham, nicht zu antworten. „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, seufzte er schließlich. „Im Leben ist das ja auch ganz hilfreich, weil man dadurch in eine Routine kommt, die für einen stabilen Alltag sorgt. Das Problem ist nur, dass dieser Hang zur Gewohnheit anscheinend in der Seele verankert ist.“
„Ich habe also Recht. Man schafft sich auch hier seine Gewohnheiten.“
„Ja. Leider. Dabei hat der Himmel alles zu bieten, uns müsste nie wieder langweilig sein.“
Edgar sah Fred überrascht an. „Dir ist langweilig?“
Fred erwiderte diesen Blick und der Schmerz, der darin lag, schwang auch in seiner Stimme mit: „Lass uns das Thema wechseln, okay?“

* * *

Waren es Tage, Wochen oder gar Monate? Edgar konnte es nicht beurteilen. Fred führte ihn in einem wahren Marathon von einer Sportstätte zur nächsten, sie trainierten auf einer Zehnkampfarena, hüpften in Kanus über irrwitzige Stromschnellen hinab, durchkletterten die Eiger Nordwand und nahmen mit schier endlos vielen anderen Teilnehmern an einer Hochseeregatta teil.
Den Höhepunkt bildete für Edgar das Wimbledon-Finalspiel, in dem er gemeinsam mit Helen Wills Moody den Sieg im gemischten Doppel gegen Fred und Suzanne Lenglen erstritt. Das Erlebnis wurde für ihn noch großartiger, als er, durch die altmodische Sportkleidung der Spielerinnen neugierig geworden, von einem Balljungen erfragte, dass die beiden zu ihren Lebzeiten eine Reihe von Wimbledon-Cups gewonnen hatten und zu den besten Tennisspielerinnen aller Zeiten gehörten.
Dass er im Himmel auf verstorbene Prominente traf war freilich nichts Besonderes, besonders war für Edgar jedoch einerseits, dass diese im Himmel weiter ihrer Passion nachgingen und andererseits die zeitliche Differenz. Zwar war Wills Moody gestorben, als er schon auf der Welt war, doch gehörte sie ebenso wie Lenglen, die Jahrzehnte vor seiner Geburt das Zeitliche gesegnet hatte, einer bereits so fernen Epoche an, dass Edgar noch nie von den beiden gehört hatte. Dennoch waren sie nun da, in ihrem Aussehen jünger als er, und spielten mit einer Energie, als hätten sie nie damit aufgehört – und wahrscheinlich hatten sie das ja auch nicht.
Da Edgar im Fußballstadion erlebt hatte, wie jeder Zuseher sein persönliches Lieblingsspiel und anschließend seine Lieblingsmannschaft auf der Siegerbank gesehen hatte, wunderte ihn nicht, dass nun auch Fred und dessen Partnerin dasselbe Turnier gewonnen hatten wie er und Helen Wills Moody, obwohl sie gegeneinander gespielt hatten. Wie das möglich sein konnte, war für Edgar ebenso undurchschaubar wie die Tatsache, dass er trotz seines nicht vorhandenen Könnens so gut mit seiner Weltklasse-Partnerin harmonierte.
In seinem Leben hatte er nie Tennis gespielt, der Sport war für ihn völlig uninteressant gewesen. Aber das galt auch für Segeln, Kanufahren und eine Reihe anderer Sportarten, die er hier zwar auch nicht beherrschte – was aber im Zusammenspiel mit anderen Seelen oder Figuren kein Problem zu sein schien.

Nach der turbulenten Siegesfeier meinte Fred, dass ihnen nun etwas Ruhe gut täte, weshalb er Edgar auf einen Golfplatz führte. Edgar überblickte die weitläufige Anlage, deren Vegetation für seine Augen englisch anmutete. Er fragte sich, ob dies hier die Nachbildung eines bedeutenden Rasens war, doch da er sich auch bei Golf nicht auskannte, verkniff er sich eine diesbezügliche Frage. Selbst wenn dies hier der berühmteste Platz der Welt war, würde er Edgar nichts bedeuten.
Außerdem interessierte ihn ein anderer Aspekt viel mehr: Ihm war aufgefallen, dass der Wechsel von einer Sportstätte zur nächsten nicht durch eine Nebelwandlung führte, sondern zu Fuß. Allerdings waren diese Wege etwas wundersam, zumal es immer nur weniger Schritte bedurfte, um in einer völlig anderen Umgebung anzukommen. Das galt für den Weg vom städtischen Bolzplatz zum Yachthafen von Nizza ebenso, wie für jenen vom Schifahren an den Hängen des Mount Everest zum Kamel-Polo in der Sahara. Nachdem er seinen Abschlag ausgeführt hatte, fragte er Fred danach.
„In dieser Region des Himmels“, erklärte dieser, „treffen sich alle Seelen, die sich besonders für Sport interessieren. Deshalb liegen die einzelnen Sportbereiche näher beieinander, als andere Interessensgebiete.“
„Du meinst, der Himmel ist in Interessensgebiete aufgeteilt?“
Fred, der sich und sein Holz gerade mit Trippelbewegungen am Abschlag einrichtete, unterbrach sich und verharrte kurz. „Das könnte man eigentlich so sagen.“ Seine zögerliche Antwort verriet Edgar, dass er es wohl noch nie so betrachtet hatte.
„Wie viele solcher Regionen gibt es?“
Fred lachte spontan auf und meinte, ehe er sich wieder dem Abschlag zuwandte: „Ich habe sie nicht gezählt.“
Während Freds Konzentration auf seinen Schlag gerichtet war, stützte Edgar sich auf seinen Golfschläger und ließ die Blicke über die Rasenhügel wandern. Auf der gut überblickbaren Weite tummelten sich eine Menge anderer Spieler, die jedoch weit genug voneinander entfernt waren, um sich gegenseitig nicht zu stören. Als ihm diese perfekte Mischung aus Geselligkeit und Distanz bewusst wurde, fiel ihm wieder die Frage ein, die er sich schon öfter gestellt hatte: „Du, Fred, wie kannst du die echten Seelen von den künstlich erschaffenen Figuren unterscheiden?“
Fred ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wippte seinen Schläger einige Male vor dem Ball hin und her, holte schließlich weit aus und zog einen Schlag durch, der den Ball bis zu seiner Unsichtbarkeit von ihnen weg beförderte. „Nicht schlecht“, kommentierte er, ehe er Edgar durch seine dicken Brillengläser musterte. „Überhaupt nicht, Ede.“
„Du meinst, da gibt es keinen Unterschied?“
„Doch, doch, oder wäre es dir Recht, wenn du mich nur erfunden hättest?“
„Woher weiß ich, dass es nicht so ist?“
„Erstaunlich misstrauisch, Bursche!“ Er gackerte.
„Aber woher weiß ich es wirklich?“
„Weil ich dir Dinge erzähle und zeige, die du noch nicht gewusst hast.“
„Das hat mein Unterbewusstsein mein ganzes Leben lang getan.“
Fred verstaute sein Holz in der Golftasche. „Schau her: Wenn du davon ausgehst, dass der Himmel nur eine Illusion ist, die du selbst erschaffst, weil du die Ewigkeit im Einheitsweiß nicht ertragen kannst, wirst du damit leben müssen, denn vom Gegenteil wird dich niemand überzeugen können. Ich sage dir aber, dass das nicht so ist. Nach unserem Tod sind wir Verstorbene alle hier angekommen, in einem Himmel, der uns all unsere Wünsche erfüllt. Hier gibt es weder Krankheit noch Mangel und deshalb auch keine Kriminalität. Es ist das Paradies, das uns versprochen wurde, denn jeder kriegt das, was er sich vorstellt. Zur Wunscherfüllung gehören aber auch immer wieder seelenähnliche Geschöpfe, die sich genau so verhalten, wie wir es von ihnen wollen. Das lässt sich mit echten Seelen aber nicht bewerkstelligen und deshalb werden vorübergehend künstliche Figuren erschaffen, die diese Anforderung erfüllen. Ob du eine Seele oder eine Figur vor dir hast, erfährst du sofort, wenn du mit ihr sprichst. Eine Seele sagt dir immer ihre Meinung – eine Figur sagt dir deine.“
„Was, wenn eine Seele meiner Meinung ist?“
„Dann wirst du schnell feststellen, dass ihre Meinung in Details von deiner abweicht. Es sind die Unterschiede, die uns individuell machen. Figuren hingegen sind unseren Wünschen angeglichen.“
„Aber hast du vorhin nicht gesagt, Seelen und Figuren ließen sich nicht voneinander unterscheiden?“
„Weil du vorhin das Aussehen gemeint hast. Da gibt’s keinen Unterschied, sonst wäre ja die ganze Illusion beim Teufel. Du kannst mit einer Figur auch ein Thekengespräch führen oder oberflächliche Witze machen, ohne dass du sie als Figuren enttarnst. Aber sobald es um individuelle Standpunkte geht, fliegt der Schwindel auf.“
Als sich die beiden in Bewegung setzten, um ihren Bällen nachzugehen, versank Edgar in ein stummes Grübeln, das er schließlich selbst unterbrach: „Tut mir leid, aber mir kommt das Ganze hier vor wie Westworld.“
„Wie was?“
„‚Westworld‘ – kennst du den Film nicht? Er handelt von einem fiktiven Themenpark, in dem die Gäste in den Wilden Westen eintauchen können. Damit auch Schießereien und Schlägereien realistisch wirken, besteht der Großteil der Akteure aus hochentwickelten Robotern, die von echten Menschen quasi nicht unterscheidbar sind. Damit wird den Gästen die Illusion von Echtheit vorgegaukelt und ihnen gleichzeitig alle Wünsche erfüllt.“
„Und so etwas vermutest du hier?“
„Es erinnert mich daran.“
Freds linke Augenbraue zuckte am äußeren Ende, als er Edgar ansah. „Ist doch schön, oder?“
„Das Problem ist nur, in dem Film hatte die zentrale Steuerung eine Fehlfunktion und die Roboter drehten alle durch. Das Ende von Westworld und seinen Gästen; bis auf einen.“
„Keine Sorge, das wird hier nicht passieren.“
„Was macht dich da so sicher?“
„Die zentrale Steuerung hier ist die Schöpfung selbst. Und die macht bekanntlich keine Fehler.“
Edgar wollte etwas erwidern, hielt jedoch im Ansatz inne, als er ein Vibrieren des Himmels wahrnahm. Er hätte das Phänomen als Sinnestäuschung abgetan, doch auch Fred blieb stehen und verharrte. Unmittelbar darauf vibrierte es erneut, diesmal etwas stärker; es war Edgar, als ginge eine wabernde Bewegung durch die gesamte Landschaft.
„Nein!“ Panik zeichnete Freds Gesicht.
„Was … was ist denn?“
„Eine große Bestrafung! Halt dich irgendwo fest!“

Das Buchcover von 'Auf der anderen Seite' von Roland Zingerle zeigt einen FBI-Agenten im Jenseits, der eine letzte Aufgabe erfüllen muss.

Auf der anderen Seite

»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«

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