Kapitel 19: Auf dem Olymp der Wissenschaft
Auf seiner Suche nach Erkenntnis begibt Edgar sich in den Wissenschaftsbereich des Himmels. Er braucht jedoch einige Zeit, um sich an die etwas speziellen Umstände hier zu gewöhnen.
Entschlossen stand Edgar auf und begann den Abstieg. Er wusste, an wen er sich zu wenden hatte, nämlich an die Seelen jener Menschen, die schon ihr irdisches Dasein dem Zweck gewidmet hatten, Fragen über die Natur des Lebens analytisch zu beantworten. Er wäre jede Wette eingegangen, dass es einen Bereich im Himmel gab, in dem sich die verstorbenen Wissenschaftler zusammenfanden. Vermutlich forschten einige von ihnen schon längst am Leben nach dem Tod und möglicherweise waren sie der Wahrheit ja schon näher, als Edgar dachte.
* * *
Am Fuß seines Berges angekommen, wünschte sich Edgar ins „Zentrum der Wissenschaft“. Als der Wunsch in Erfüllung ging und die Nebel sich klärten, stand er noch immer am Fuß eines Berges. Es dauerte einen Moment bis ihm klar wurde, dass es sich um einen anderen, einen ausgesprochen ungewöhnlichen Berg handelte. Es hatte den Anschein, als wäre er ein künstliches Konstrukt aus weiß getünchten Betonkugeln unterschiedlicher Größe. Zwischen den miteinander zu starren Wolken verschmolzenen Kugeln führte ein gewundener Weg nach oben, eigentlich eine Treppe, deren Stufen zwar alle gleich hoch, je nach Steilheitsgrad des jeweiligen Abschnitts aber unterschiedlich tief waren. Der Berg insgesamt hatte die Form einer spitzen, sehr steilen Pyramide. Auf ihrem Gipfel, der von weißen Wolken umzogen war, erkannte Edgar die ebenfalls weißen Säulen eines antiken Tempels, auf denen ein riesiges, verziertes Steindreieck thronte.
Sowohl auf der Treppe als auch am Fuß des Berges wandelten Gestalten, die auf Edgar wirkten, als seien sie einem Historienfilm entsprungen. Es waren alte Männer mit langen Bärten und kurzen Haarkränzen. Sie waren in Togen gehüllt, trugen Sandalen und hielten Schriftrollen und Holzkästen unter dem Arm. Ihre Kleidung und ihre Haare waren ebenso weiß, wie der Berg. Teilweise standen die Männer zu zweit oder in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich leise, wobei ihre Gesten und Mimiken Edgar den Eindruck vermittelten, es ginge um wichtige, weltbewegende Dinge. Andere alte Männer saßen auf den Kugeln, aus denen der Berg gemacht war, lasen in den Schriftrollen, beschrieben sie oder waren in den Inhalt ihrer Holzkästen vertieft, die geöffnet auf ihren Knien lagen. Einer von ihnen saß in Edgars Nähe, so dass dieser sehen konnte, was der Kasten enthielt: eine weiße Schreibfeder, ein Tintenfässchen aus gebranntem Ton, ein trapezförmiges Holzblatt und einen kleinen spitzen Stab, der wie ein Bleistift aussah, nur ohne Miene. Der untere Innenteil des aufgeklappten Kastens war mit Wachs gefüllt, hierauf schrieb der Mann mit dem Stab; er ritzte Schriftzeichen in das Wachs. Kaum war die Wachstafel vollgeschrieben, nahm der Alte das Holzblatt und zog es wie eine Spachtel über das Wachs, wodurch er das Geschriebene löschte und die Oberfläche für eine neue Beschriftung glättete.
Edgar ging zu dem Portal, das den Beginn der Stiege markierte. Es bestand aus zwei kunstvoll verzierten Säulen, auf denen ein steinernes, mit griechischen Schriftzeichen behauenes Dreieck ruhte. Er wandte sich an einen der Männer in unmittelbarer Nähe: „Verzeihung, können Sie mir sagen, was die Schriftzeichen da oben bedeuten?“
Der alte Mann sah etwas verloren von seiner Schriftrolle auf, begann aber gleich zu lächeln. „Aber ja.“ Seine Stimme klang tief und sonor. „Da steht ‚Willkommen auf dem Olymp der Wissenschaft‘.“
„Olymp der Wissenschaft? Was ist das?“
„Nun, es ist das Zentrum der Wissenschaft der gesamten Menschheit.“
„Okay – aber warum ‚Olymp‘?“
Der Alte setzte einen versonnenen Blick auf. „Das antike Griechenland gilt als Wiege der westlichen Zivilisation. Es war eine Epoche, in der Vieles, was die menschliche Zivilisation ausmacht, zu einer Hochblüte gelangte. Die schönen Künste, zum Beispiel, mit dem antiken Drama. Und auch die Wissenschaft und die Philosophie. Der Berg Olymp galt als die Heimat der griechischen Götter, tja, und irgendwann setzte man die Kultur mit der Religion gleich.“
„Der Olymp als Heimat der Götter der Wissenschaft?“
Der Alte legte in einer entschuldigenden Geste den Kopf schräg und erwiderte: „Wir Wissenschaftler sind mitunter eitle Seelen.“
Edgar bedankte sich und begann, die Treppen hinaufzusteigen.
Die Seelen, die ihm begegneten, bewegten sich sehr bedächtig. Sie schritten langsam von Stufe zu Stufe mit teils gesenktem, teils gehobenem Blick, aber alle mit einem feinsinnigen Lächeln auf den Lippen und einem in kontemplatives Nachsinnen versunkenen Ausdruck auf dem Gesicht. In den Kehren der Treppe rasteten sie vereinzelt auf den Kugeln des Berges und hatten dabei Körperhaltungen eingenommen, mit denen sie wie Figuren aus einem alten Gemälde wirkten, welches antike Denker zeigt.
Edgar saugte diese Atmosphäre der gedankenvollen Einkehr in sich auf, während er den Olymp der Wissenschaft erklomm. Der Weg nach oben kam ihm wie eine Ewigkeit vor, doch er hatte die Ahnung, dass dieser Aufstieg ein Symbol des Erkenntnisweges sein sollte, den jeder Wissenschaftler zu gehen hatte. Darum wünschte sich Edgar auch nicht direkt auf den Gipfel, sondern nahm die Treppe in Kauf. Mehr noch, er versuchte, sein Tempo dem der alten Männer anzugleichen. Das wollte ihm aber nicht recht gelingen, denn er war viel zu neugierig auf das, was ihn da oben erwartete und auf die Antworten auf die Fragen, wegen denen er gekommen war.
Am Gipfel erwartete Edgar eine Überraschung. Während die Treppe unter ihm nahezu in Wolken verschwand, breitete sich vor ihm, direkt hinter dem Säulentempel, ein Meer aus, an dessen Horizont gerade die Sonne unterging. Die Stimmung erinnerte ihn vage an einen der Griechenlandurlaube, die er zu seinen Lebzeiten mit Heike unternommen hatte, doch in Verbindung mit der wiederbelebten Antike hier, war der Eindruck anders, ruhiger, vergeistigter.
Edgar überblickte das Plateau, auf dem er stand. Es hatte etwa die Größe eines Fußballfeldes und der Tempel nahm die gesamte Fläche ein. Sollte das etwa das Zentrum der Wissenschaft sein, ein paar überdachte Säulen mit darin umherwandelnden alten Männern? Und warum dieses antike Äußere? Hatten sich die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen nicht erst in der Neuzeit so richtig entfaltet? Wo waren die Spuren der Gegenwart?
Edgar bemerkte schnell, dass ihm entgangen war. Als er nämlich zu der nächstgelegenen Säule blickte, erkannte er, dass sich der Raum dort merkwürdig zu vertiefen schien. Es machte den Eindruck, als würden Männer, die auf die Säule zugingen, immer kleiner wurden. Dasselbe Phänomen trat auch an den anderen Säulen auf. Kurzentschlossen ging er auf die nächstgelegene Säule zu und tatsächlich wurde der Weg vor ihm umso länger, je weiter er ging. Die Säule wurde zunächst immer größer, dann immer transparenter und schließlich erschien an ihrer Stelle ein geräumiger Gang, dessen Innenarchitektur Edgar stilistisch in die neunzehnhundertsiebziger Jahre einordnete. Auch die Männer, die in dieselbe Richtung gingen wie er, veränderten ihr Aussehen, während sie sich fortbewegten. Nach ihrer Metamorphose trugen sie anstelle ihrer Togen und Bärte legere Anzüge oder bequeme Straßenkleidung, waren frisch rasiert oder hatten kurze, gepflegte Bärte. Die meisten von ihnen schienen nun um Jahrzehnte jünger zu sein und hatten volles Haar, das sie vorwiegend kurz geschnitten und gescheitelt trugen. Sie sahen nun aus wie die wissenschaftlichen Mitarbeiter einer Universität aus Edgars Lebenszeit. Als er sich umdrehte, um einem Mann seines Alters nachzusehen, der ihm entgegengekommen war, konnte er beobachten, wie dieser sich im Weitergehen in einen alten Mann mit Rauschebart und Toga verwandelte und die Ledermappe unter seinem Arm in ein Holzkästchen und einige Schriftrollen. Am Ende des Ganges, dort, von wo Edgar gekommen war, sah er nun eine doppelflügelige Tür, die, wenn sie geöffnet wurde, den Blick auf die anderen Tempelsäulen freigab.
Vor Edgar schien der Gang endlos weiterzugehen und ebenso endlos schien der Strom an Seelen zu sein, die hier in beide Richtungen marschierten. An den Seitenwänden befanden sich in regelmäßigen Abständen von wenigen Metern Türen, die alle gleich aussahen. Ihre schier unendliche Zahl in Verbindung mit der perspektivischen Verjüngung des Ganges wirkte auf Edgar, als befände er sich hier im wahr gewordenen Alptraum von einem Amtsgebäude. Im Vorbeigehen erhaschte er immer wieder einen Blick in die Räume dahinter, wenn Seelen aus diesen herauskamen oder in diese eintraten. Er sah Büroräume, Hörsäle, großräumige Laboratorien und andere Gänge.
Irgendwann wurde ihm seine Wanderung durch den Gang zu fade. Da die Türen nicht beschildert waren, ergriff er kurzerhand die Schnalle der nächstbesten und trat ein. Er fand sich in einem abgedunkelten Hörsaal wieder, wo er sich in der obersten Sitzreihe niederließ. Der Saal war von gigantischer Größe, seine stufenförmig angeordneten Sitzreihen bilden Halbkreise. Auf der Präsentationsebene ganz unten stand ein Vortragender vor einer 3-D-Projektionsarena. Trotz der Entfernung von zumindest einem Kilometer hörte Edgar jedes Wort des Vortrags einwandfrei und konnte die projizierten 3-D-Animationen in jedem Detail erkennen; ebenso wie die Mimik des Dozenten. Es war dasselbe Phänomen, das er schon in dem Fußballstadion erlebt hatte, in das Fred ihn gleich nach seiner Ankunft gebracht hatte. Edgar fiel auf, dass das Auditorium gut gefüllt war. Im Gegensatz zu einem Fußballstadion, in dem die Stimmung auch von der Anzahl der Zuschauer abhängig war, hatte die Anzahl der Hörer keinen Einfluss auf einen wissenschaftlichen Vortrag und wenn, dann einen negativen in Form von Störgeräuschen. Edgar glaubte deshalb nicht, dass die Anwesenden hier künstlich erschaffene Figuren waren. In Anbetracht der Größe des Hörsaals bedeutete das eine enorm hohe Zahl an Seelen, die dem Vortrag beiwohnten.
Edgar ließ das Ambiente auf sich wirken. Er fragte sich, warum das Tor zu diesem Bereich des Himmels ein antiker Tempel war, während es hier aussah, wie in einer Universität der Zukunft. Er machte sich klar, dass im Wissenschaftsbereich des Himmels andere Zusammenhänge am Werk waren, als etwa auf der Partymeile. Wie er auf seinem Weg hierher gesehen hatte, verwandelte sich das Äußere der Seelen so, dass sie in die Zeit passten, in der sie sich aufhielten. Sie schienen weniger Wert auf ein individuelles Äußeres zu legen als darauf, dazuzugehören. Ein echter Kontrapunkt zur Partymeile, wo es vor allem darum ging, sich möglichst von allen anderen abzuheben.
Auf der anderen Seite
»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«
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