Kapitel 24: Bohèmiens

In einer Künstler-Kommune wird Edgar Teil einer Art zu leben, die er nicht versteht.

In der knappen halben Stunde, die die Show dauerte, steigerte sich ihre Intensität immer mehr. Edgar war gefesselt wie von nichts anderem davor, er vergaß die Umgebung, in der er sich befand, wurde zum Teil der Vorstellung. Plötzlich begann der Boden zu beben. Viele der anwesenden Seelen kreischten auf und warfen sich zu Boden. Auch Edgar spürte Panik in sich aufsteigen und auch er lag gleich darauf flach am Boden und suchte vergebens nach Halt. Doch was dann kam, war keine große Bestrafung. Die Seitenfront der Glashalle zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Knall in unzählige klitzekleine Scherben und ein riesiges Segelschiff, wie aus dem Zeitalter der großen Entdeckungen in der frühen Neuzeit, stampfte knapp über den Köpfen der Zuschauer herein. Während sich diese mit Lauten der Erleichterung und des Staunens langsam wieder erhoben, drehte das Schiff bei und bleibt leicht schlingernd in der Luft liegen. Edgar sah, dass die explodierte Glaswand wieder heil war, auch Splitter konnte er nirgendwo entdecken. Er rappelte sich auf und mit einem Mal drang ein Geräusch an sein Ohr, das die ganze Halle erfüllte. Es klang wie das Flattern von Flügeln, welche so zart waren, dass sie gerade einmal die Luft in Schwingung versetzten. Allerdings war dieses Geräusch allgegenwärtig und trotz seiner Zartheit sehr laut. Es dauerte einige Sekunden, bis Edgar erkannte, dass die Bewegung der Schiffssegel nicht von einem künstlich geschaffenen Wind herrührte, sondern daher, dass anstelle von Segeln riesige Schmetterlinge an den Masten saßen und das Schiff durch ihren Flügelschlag in der Luft hielten und antrieben. Mit einer weiteren großen Geste ließ Salvador Dali das Schiff nun so weit zur Seite kippen, dass Edgar und die anderen Zuschauer das Deck sehen konnten. Dann ließ sich der Maler auf den hinteren Deckaufbau herab und stellte sich an das Steuerrad, wo er sich vor dem aufbrandenden Applaus und dem begeisterten Johlen verbeugte. Dann gab er den Schmetterlingen ein Zeichen, woraufhin sich deren Flügelschlag intensivierte und als das Schiff in seiner Schräglage davonsegelte, winkte Dalí seinem Publikum zum Abschied zu. Er wirkte eher wie ein Magier als wie ein Maler. „Er hat sich in seinem Selbstporträt richtig getroffen: Er ist ein Gott!“ Die schmachtende Stimme neben Edgar gehörte einer schlanken Frau um die vierzig, die auf ihn wirkte, als entstammte sie einer Künstlerkommune der späten neunzehnhundertsechziger Jahre. Sie trug Sandalen, rosafarbene Glockenhosen, ein Jute-Top mit einem großen V-Ausschnitt, der mit einem orientalischen Muster bestickt war, und eine blaue Baskenmütze. Als sie seinen Blick bemerkte, sah sie ihn an. Ihr Gesichtsausdruck wirkte verklärt und fast ein bisschen weltfremd, wie Edgar fand. „Du bist zum ersten Mal hier, hab ich nicht Recht?“, fragte sie. „Woran siehst du das?“ „Ich weiß auch nicht … ihr Neulinge habt so ein naives Staunen an euch. Nicht böse sein.“ „Bin ich nicht. Aber vielleicht kannst du mir ja dabei helfen, dass mein Staunen weniger naiv wird?“ „Klar, gerne. Kannst gerne mit mir mitkommen, wenn du nichts anderes vorhast.“ „Meine nächsten hundert Jahre gehören dir.“ Sie blinzelte und lächelte und beides wirkte auf Edgar, als stünde sie unter Drogen. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und bewegte ihr Becken wie in einem lasziven Tanzschritt. Da sie einen halben Kopf kleiner war als er, sah sie zu ihm auf und sagte anzüglich: „Komm mit mir mit, schöner Mann!“ Während sie sich an ihn schmiegte, lösten sich die Konturen um sie beide herum auf. Als sich der Zielort aus dem Gewölk heraus klärte, erkannte Edgar, dass sein erster Eindruck von der Frau richtig gewesen war. Sie befanden sich in einem großen Atelier, in dem allerlei Malutensilien kunterbunt durcheinanderlagen. Inmitten dieses Chaos standen einige Staffeleien mit abstrakten Gemälden, an einem davon arbeitete ein junger Mann, der außer einer schmutzigen Unterhose nichts anhatte. In der einen Hand hielt er eine Palette, die andere ließ einen Pinsel über die Leinwand wüten. Dabei sog er immer wieder an dem Joint in seinem Mundwinkel. An mehreren Stellen des großen Raumes sah Edgar nun Gestalten am Boden hocken und Farben mischen oder mit Farbstiften auf Papier herumkritzeln, welches vor ihnen am Boden lag. Edgars Begleiterin musterte sein Gesicht und kicherte. „Schöner Mann, darf ich dir meine Genossen vorstellen?“ Sie rief in den Raum: „Hey, Genossen, darf ich vorstellen: schöner Mann.“ „Hi, schöner Mann.“ Der Maler in der Unterhose winkte kurz mit dem Pinsel, ohne von seiner Arbeit aufzusehen, die anderen ignorieren die Ankömmlinge. „War eine wilde Party gestern“, erklärte die Begleiterin, „die sind alle noch stoned. Hey, Piggy, ist vom gestrigen Stoff noch was da?“ Eine der hockenden Gestalten antwortete ihr, ebenfalls ohne aufzusehen: „Tut mir leid, alles weg. Musst dir neuen wünschen.“ Mit einem Mal hielt Edgars Begleiterin eine verdrehte weiße Papierwurst in der Hand, die am äußeren Ende gloste. Sie sog daran, schlang ihren Arm um Edgars Hüfte und schob ihn durch den Raum zu einer Staffelei, auf der eine schwarz grundierte Leinwand stand, die mit weißen Spiralen bemalt war. „Mein Bild. Wie gefällt‘s dir?“ „Was ist das?“ „Die Lebensspirale.“ „Lebensspirale?“ „Meine Güte, schöner Mann, du hast aber auch überhaupt keine Ahnung, oder?“ „Ich widerspreche nicht.“ „Das Leben hat die Form einer Spirale! Das hat Salvador schon gewusst, noch bevor sie dieses Dings entdeckt haben, aus dem wir alle bestehen – das, das wie eine Spirale aussieht.“ Sie nahm einen Pinsel aus einem Glas mit trüber Flüssigkeit, welches am Boden stand, tauchte ihn in einen Topf mit weißer Farbe und trug eine weitere Spirale auf der schwarzen Leinwand auf, wobei ihre Bewegungen auf Edgar wenig kontrolliert wirken. „Was meinst du?“, fragte er. „Na dieses Dings eben … LSD? Nein … S … S …“ „DNS?“ Sie schnippte mit den Fingern und zeigte auf Edgar, der dies als Geste der Zustimmung interpretierte. Dann kniff sie ein Auge zu, um es vor dem Rauch ihres Joints zu schützen, den sie sich, in den Mundwinkel gesteckt hatte, wie ihr Kollege in der Unterhose. „Komm, mach‘s dir gemütlich“, sagte sie, „ich hab noch zu arbeiten. Danach bumsen wir, okay?“ Edgar war zu baff, um ihr eine Zusage zu geben, doch er war bereit, die Dinge geschehen zu lassen. Er wünschte sich eine Flasche Bier und eine Zigarette und ließ sich auf dem farbbeklecksten Parkettboden nieder. Zwar hatte er Zigaretten noch nie gemocht, doch wenn er verstehen wollte, wie diese Künstler tickten, so dachte er, musste er in die hier vorherrschende Atmosphäre eintauchen. Tatsächlich schien seine Kreativität bereits angeregt zu sein, denn er wünschte sich, dass seine Zigarette nach Erdbeeren schmecken sollte. Etwas später verwandelte er ihren Geschmack in den von Essigwurst und danach in den von Blumenerde, bevor er ihn wieder zu dem ursprünglichen nach Tabak zurück änderte. Dann fiel ihm Salvador Dalí ein, der ihn auf die Idee gebracht hatte, wie Superman zu fliegen. Das probierte er jetzt aus und hob – noch im Schneidersitz – zehn Zentimeter vom Boden ab. Das Schweben über dem Boden fühlte sich an, als säße er auf einem ganz weichen Polster und er war irgendwie verwundert, dass ihn das nicht anstrengte. Offenbar hatte er die Möglichkeiten, die der Himmel bot, bislang nur in Ansätzen ausgeschöpft. * * * Edgar verbrachte eine lange Zeit in der Künstlerkommune, hatte aber auch am Ende nicht das Gefühl, hier irgendwelche Erkenntnisse gewonnen zu haben. Die Gruppe umfasste eine unbestimmbare Anzahl von Seelen, die kamen und gingen, da- oder fortbleiben und von denen offenbar kaum jemand einen Namen hatte. Bis auf zwei oder drei Ausnahmen sprach man sich hier gegenseitig mit „hey, du“ an, oder mit einer Eigenschaft, die den Angesprochenen im jeweiligen Moment von den anderen unterschied, etwa „du, Raucher“, oder „hey, rote Hose“. Da Edgars Begleiterin ihn nie nach seinem Namen gefragt hatte, hatte auch er sie nie nach ihrem gefragt. Er nannte sie seinerseits „schöne Frau“, obwohl er sie überhaupt nicht schön fand. Er fand sie im Gegenteil vulgär und kulturlos und erkannte rasch, dass sie in ihrem künstlerischen Tun Spontaneität mit Zufall verwechselte. Diese Eigenheiten unterstellte er übrigens allen Mitgliedern dieser Kommune. Er sah ihnen zu, wie sie wirre Flächen und Linien auf ihre Leinwände schmierten, die sie dann einem oder mehreren der anderen zeigten und sich dafür bewundern ließen. Im Gegenzug bewunderten auch sie die Werke ihrer Claqueure. Edgar war sich nicht sicher, ob es sich dabei um ein etabliertes, längst nicht mehr hinterfragtes Ritual handelte, oder ob dieses Verhalten damit zusammenhing, dass die Genossen quasi ununterbrochen unter dem Einfluss irgendeiner Droge standen, die ihnen ihre Umwelt rosiger erscheinen ließ, als sie war. Irgendwann kam einem Kommunarden, der allgemein „Igelfrisur-Macker“ genannt wurde, die Idee, sie könnten doch alle gemeinsam mit Spielzeug-Bausteinen einen Turm aufschichten. Die anderen stimmten begeistert zu, wünschten sich eine riesige Menge Bausteine und stapelten diese zu einem wirren Gebäude zusammen, das nach Edgars Empfinden mehr von der gemeinschaftlichen guten Laune als von seinen statischen Eigenschaften zusammengehalten wurde. Als die Künstler die Lust am Weiterbauen verloren, jubelten sie, applaudierten einander und fielen sich in die Arme, darin einig, ein großes Werk geschaffen zu haben. Das feierten sie dann ausgiebig mit Alkohol, Drogen, Gruppensex, gegröltem Gesang und schriller Musik aus extra billig gewünschten Lautsprecherboxen. Das Bausteingebäude wurde fortan ignoriert und fiel Stück für Stück zusammen, wann immer jemand daran anstreifte. Die zu Boden gefallenen Steine blieben dort inmitten jener Dinge liegen, die schon bei Edgars Ankunft hier gelegen waren und jener, die während seiner Anwesenheit noch hinzugekommen waren; niemanden kümmerte es. Das taten die Kommunarden übrigens immer, wenn sie nicht gerade ihre Art von Kunst schufen: Sie hörten Musik oder sangen, betranken sich, schliefen miteinander oder rauchten, schnupften oder spritzten sich irgendwelche Drogen. Dinge wie Körperpflege und saubere oder gar geschmackvolle Kleidung galten unter ihnen als oberflächlich, gegessen wurde kaum und wenn, dann ausschließlich Fertig-Pizze, Hamburger oder sonstiges Junk-Food. Das irritierte Edgar. Im Himmel bedurfte es schließlich keinerlei Anstrengung, um Ordnung zu schaffen, sich ein annehmbares Äußeres zuzulegen oder beste Speisen aufzufahren. All das war nicht weiter als einen Wunsch entfernt, doch niemand äußerte einen solchen. Im Gegenteil: Einmal, als Edgar sich das Atelier aufgeräumt wünschte, protestierten alle Künstler, die gerade bei Bewusstsein waren, und einer von ihnen wünschte sich sogleich die alten Zustände wieder zurück. Spontan wollte Edgar die „schöne Frau“ nach den Vorteilen fragen, die diese Art zu leben ihnen brächte, doch sie lag gerade im Delirium irgendeines Rausches und nahm ihn nicht wahr.

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