Kapitel 25: Im Künstlerviertel

Auf der Suche nach Erkenntnissen über die Entwicklung von Kunst und Künstlern im Himmel ändert Edgar seine Strategie: Er verwandelt sich in einen Geist – und dann in einen Konsumenten

Eines Tages erwachte Edgar am Boden liegend, inmitten von zerfetzten Leinwänden, alten Pinseln, leeren und halbleeren Farbdosen, Bausteinen und zig anderen Dingen, die hierher gehörten, inklusive der Künstler, die ebenfalls verstreut herumlagen. Als ihm vor lauter Kopfschmerzen nicht einfallen wollte, was vor seinem Blackout geschehen war, wünschte er seinen Kater weg und musste erkennen, dass er sich dazu hatte verleiten lassen, mit der Kommune eine Orgie zu feiern. Er war zu einem Teil dieser Gemeinschaft geworden – und all der Dinge am Boden. Da wusste er, dass es an der Zeit war zu gehen.
Er stand auf und ließ seinen Blick ein letztes Mal durch das Atelier schweifen. Es sah aus, als hätte die Druckwelle einer Explosion alle Seelen betäubt und sie und die Gegenstände in diesem Raum durcheinandergewirbelt. Was die Kommunarden unter Kunst verstanden, konnte und wollte Edgar nicht nachvollziehen, ebenso wenig, was sie an ihrer Lebensweise „geil“ fanden, wie sie immer betonten. Er empfand diese Daseinsweise als menschenunwürdig und abstoßend, sie beinhaltete nichts, womit er auf Dauer glücklich werden konnte.
Edgar stieß sich vom Boden ab, schoss durch das geschlossene Fenster hinaus, ohne dieses zu zerstören, und stieg senkrecht in den Himmel hinauf. Je weiter das abbruchreife Haus, in dem sich das Atelier befand, unter ihm zurück blieb, umso freier fühlte er sich.

* * *

Edgar lag auf einer Wolke und dachte nach. Eigentlich lag er nicht wirklich darauf, er schwebte in ihr, so dass es so wirkte, als trage sie ihn. Er fragte sich, ob die „schöne Frau“ und ihre Künstler tatsächlich Erfüllung in ihrer Kommune fanden und ob diese Art zu leben tatsächlich ihr Rezept für die Ewigkeit war. Jedenfalls hatte er bei ihnen keinen Anhaltspunkt für eine Weiterentwicklung entdeckt, weder in ihren Persönlichkeiten noch in dem, was sie Kunst nannten.
Vielleicht, so überlegte Edgar weiter, war er ja nur bei den falschen Leuten gewesen, vielleicht brachten ihn andere künstlerische Gemeinschaften weiter? Doch nach seinen jüngsten Erfahrungen scheute er davor zurück, noch einmal mit Künstlern zusammenzuleben. Möglicherweise war das aber auch gar nicht nötig, eventuell genügte es ja, sie bei ihrem Tun nur zu beobachten? Sein Abstecher in die Kommune mochte ein Schlag ins Wasser gewesen sein, doch der Besuch von Salvador Dalís Ausstellung hatte ihn inspiriert. Dalís Show hatte Edgar eine Ahnung davon gegeben, welche Möglichkeiten der Himmel einem Künstler bot, welcher ihn mit mutiger Kreativität zu gestalten wusste. Seither nahm sich Edgar den Phantastischen Realismus als Vorbild für sein alltägliches Dasein und kam dadurch regelmäßig auf verrückte Ideen. Das Schweben auf einer Wolke war eine solche gewesen, oder zu fliegen wie Superman. Letzteres war auf Anhieb zu seinem Inbegriff von Freiheit geworden, es hatte jede noch so wagemutige Vorstellung bei weitem übertroffen, die er sich je davon gemacht hatte.
Diese neue Art zu denken half Edgar auch bei seiner jetzigen Überlegung: Seelen, die er beobachten wollte, mussten ihn nicht zwangsläufig wahrnehmen. Warum sollte er sich nicht zum Beispiel in einen Geist verwandeln? Er beschloss, diesen Einfall gleich in die Tat umzusetzen.

* * *

Binnen kurzer Zeit lebte sich Edgar im Bereich der kulturellen Gegenwart gut ein. Hier reihten sich die Nachbildungen berühmter Opernhäuser an solche nicht minder berühmter Theaterbühnen, Kunstgalerien an Konzerthäuser, kleine Jazzkeller an Zirkuszelte und Literatur-Cafés an pittoreske Plätze, an deren nie endenden lauen Sommerabenden Straßenkünstler ihr Können zum Besten gaben. Die Straßen und Plätze, Bühnen und Bars waren voller Seelen, die zuhörten, zusahen, mitlebten. Es war der am dichtesten bevölkerte Bereich des Himmels, den Edgar bislang erlebt hatte, abgesehen von der Partymeile vielleicht. Beim Flanieren durch die Straßen umwehte ihn ein ganz besonderes Flair, eine harmonische Stimmung, als gäbe es nichts Böses zwischen den Menschen – und tatsächlich gab es ja auch nichts Böses zwischen den Seelen.
Für sich selbst nannte Edgar diesen Bereich des Himmels „Künstlerviertel“, eine treffende Bezeichnung, wie er fand, denn neben den Aufführungsstätten gab es hier auch Wohnblocks mit billigen Einzimmerwohnungen sowie Gastronomie- und Handwerksbetriebe mit Bedarf an Gelegenheitsarbeitern, die es den Künstlern ermöglichten, finanziell über die Runden zu kommen. Edgar hatte es zunächst nicht glauben können, doch es stimmte tatsächlich: Viele Künstler, die im irdischen Leben Großes geleistet hatten, aber dennoch nie aus der Masse herausgeragt waren, hatten nach ihrem Tod erkannt, dass ihre bescheidene Lebensweise, dieses In-den-Tag-hinein-leben und nicht wissen, wie sie die Miete für den darauffolgenden Monat bezahlen würden, sie glücklich gemacht hatte. Es hatte ihnen ein Gefühl von Freiheit gegeben, von Unabhängigkeit und es hatte sie mit Stolz erfüllt, dass sie nie aufgaben und immer irgendwie durchkamen. Also hatten sie diesen Lebensstil auch im Himmel beibehalten, endlich in dem Bewusstsein, dass jede Minute sie glücklich machte und wohl immer schon gemacht hatte, obwohl sie das nie so gesehen hatten.
Freilich gab es auch Straßen mit riesigen Villen, in denen die großen Stars lebten, jene, die es schon im Leben geschafft hatten oder jene, die erst im Leben danach bewundert wurden oder sich bewundern ließen. Edgar hatte erfahren, dass in einer dieser Villen die Seele des italienischen Tenors Luciano Pavarotti wohnte. Allerdings war er auch schnell draufgekommen, dass im Künstlerviertel viele Gerüchte herumschwirrten und dass die Grenze zwischen Wahrheit und haltloser Schwärmerei gerade hier sehr verschwommen war, was als romantisch angesehen wurde.

Sein Ansinnen, in Form eines Geistes in die Garderoben der Künstler zu schweben und somit als unbemerkter Beobachter am Künstler-Alltag teilzunehmen, schlug gleich beim ersten Versuch fehl. Unmittelbar nachdem Edgar in die Räumlichkeiten eines exzentrischen Theaterregisseurs geschwebt war, beschimpfte ihn dieser als Voyeur und als „jenseitigen Amateur“, zumal er offensichtlich keine Ahnung davon hätte, wie der Himmel funktioniere.
Diese Blamage beschämte Edgar sehr. Im Nachhinein kam er sich schäbig vor, überhaupt einen so kindischen Versuch unternommen zu haben. Schließlich hätte er sich denken können, dass er andere Seelen nicht ausspionieren konnte, ohne dass sie es bemerkten. Eine Seele hatte die Freiheit, alles zu tun, solange es die Freiheit einer anderen Seele nicht beeinträchtigte. Heimliches Ausspionieren war eine Beeinträchtigung der Freiheit und folglich nicht möglich. Von da an beschränkte sich Edgar auf die Rolle des Konsumenten und durchwanderte das Künstlerviertel mit wachen Sinnen. Dabei lernte er Seelen kennen, die so wie er den Himmel durchstreiften und sich ansahen, was die verschiedenen Bereiche zu bieten hatten.

Als er sich für den Film interessierte, war er erstaunt, welch abgeschiedenes Dasein dieser fristete. Mitten im Künstlerviertel ragte ein Hügel empor, auf dessen riesigem Plateau nicht nur die Kinos standen, sondern auch die Hallen verschiedener Filmstudios. Diese Abkapselung hatte keinen offensichtlichen Grund. Möglicherweise stimmte ja das Gerücht, der Hügel sei von den ersten verstorbenen Filmschauspielern geschaffen worden, als Abbild jenes Hügels in Los Angeles, auf dem der Schriftzug „Hollywood“ angebracht war.
Allerdings war diese Absonderung auch ein unfreiwilliges Sinnbild für die Bedeutung, die der Film im Himmel hatte. Zunächst konnte Edgar nicht verstehen, warum der Film hier so schlecht angesehen war, vor allem weil echtes holografisches Kino mit Geruchs- und Berührungseffekten Normalität war. Doch nachdem er ein paar Filme miterlebt hatte, musste er zugeben, dass sie ihn langweilten. Der Grund dafür war erstaunlich simpel: Während ein Film im Diesseits alternative Möglichkeiten des Lebens zeigte, seine Zuseher in phantastische Welten entführte oder sie Schicksale miterleben ließ, die sie aus eigener Erfahrung nicht kannten, war das Alltagsleben im Himmel selbst so phantastisch und voller Möglichkeiten, dass selbst der aufwändigste Film im Vergleich dazu langweilig wirkte. Alles, was einen Film im Leben vor dem Tod besonders gemacht hatte, konnte hier von jeder Seele problemlos erschaffen und erfahren werden, womit die künstliche Darstellung dieser Dinge jeden Wert verlor.

Das gleiche Schicksal erlitt auch der Holo-Roman. Als Edgar erfuhr, dass es auf dem Filmberg Holo-Suiten gab, wurde er vor Begeisterung fast verrückt. Die Idee dazu basierte auf der Star-Trek-Serie „Raumschiff Voyager“: In einem großen Raum, der mit Holografie-Projektoren ausgestattet war – der sogenannten Holo-Suite – wurde eine grob vorgegebene Romanhandlung gespielt. Die Figuren und Gegenstände erschienen dabei nicht nur dreidimensional, sondern bekamen auch feste Form. Der Teilnehmer an einem Holo-Roman konnte in der Rolle einer Romanfigur den Handlungsfortlauf aktiv beeinflussen.
Es war die Seele von Star-Trek-Erfinder Gene Roddenberry selbst, die die Holo-Romane seinerzeit im Himmel in Mode bringen wollte. Im Diesseits hätte er damit ohne jeden Zweifel den nächsten Trekkie-Hype ausgelöst, doch wie Edgar sich selbst überzeugen musste, verpuffte die Wirkung jedes Holo-Romans hier aus denselben Gründen, wie die der traditionellen Filme. Als Seele im Jenseits konnte man seinen realen Alltag weitaus interessanter und intensiver gestaltet, als jede noch so spannende Romanhandlung.
Roddenberry hatte schon vor langer Zeit die Konsequenz daraus gezogen und sich in einen eigens geschaffenen Bereich zurückgezogen, den er „Das Star-Trek-Universum“ nannte. Da Edgar zu Lebzeiten zwar nicht gerade ein „Trekkie“ war, wie fanatische Star-Trek-Fans genannt wurden, sich aber doch immer wieder dafür begeistern konnte, ließ er es sich nicht nehmen, diesen Bereich zu besuchen und einige Zeit in ihm zu leben. Er war fasziniert von der scheinbaren Authentizität der ganzen Sache, aber noch mehr faszinierte ihn der Enthusiasmus, mit dem all die hier lebenden, verstorbenen Trekkies in ihren Rollen aufgingen. Sie, wie auch ganze Heerscharen künstlich geschaffener Figuren, bevölkerten die Planeten der Föderation sowie die der Förderationsfeinde. Sie unterhielten diplomatische Beziehungen miteinander, trieben Handel oder führten gegeneinander Krieg. Gene Roddenberry selbst war hier der Präsident der „Vereinten Föderation der Planeten“, der in Krisenzeiten auch gerne einmal selbst in einem Raumschiff Hand anlegte. Er und seine Fans wirkten hier ausgesprochen glücklich auf Edgar.

Aber Star Trek war bei weitem nicht der einzige fiktive Bereich, im Gegenteil: Quasi zu jedem Erfolgsfilm und zu jedem Bestseller des Diesseits hatten Fans jeweils eigene Bereiche erschaffen, in denen sie lebten. Andere Seelen wanderten hier wie Touristen durch und besichtigten die Schauplätze der Handlungen, oder sie nahmen am Alltagsleben dieser Schauplätze teil, in Rollen, die sie sich aktuell dazu wünschten.
Auf diese Weise verbrachte Edgar geraume Zeit in Werken wie „Faust“, „Vom Winde verweht“, „Zurück in die Zukunft“, „Eine Weihnachtsgeschichte“, „Das Parfüm“, „Jurassic Park“, „Commissario Brunetti“, „Der Fluch der Karibik“, „Tom & Jerry“ und viele Weitere mehr. Und auch wenn ihm dieses Tingeln zwischen den erfundenen Welten irgendwann zu eintönig wurde, so machte er sich danach in einem Punkt keine Sorgen mehr, nämlich, dass ihm langweilig werden könnte, egal wie lange die Ewigkeit auch dauern mochte.

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