Kapitel 14: Party
Die Erkenntnis, dass Familie nichts bedeutet, wenn sie nicht gepflegt wird, stürzt Edgar in eine Krise. Er sucht oberflächliche Ablenkung und lernt eine neue Seite des Himmels kennen.
Edgar war irgendwie davon ausgegangen, dass solche Dinge im Himmel keine Bedeutung mehr haben würden, doch jetzt kam ihm dieser Gedanke fürchterlich naiv vor. Die Beziehung, die Menschen zueinander hatten, waren immerhin ein Produkt aus ihrer gemeinsamen Geschichte. Edgar erinnerte sich an eine Dokumentation, die er in seinem irdischen Leben einmal gesehen hatte. Sie hatte von einem Mann gehandelt, der im Alter von dreißig Jahren das Gedächtnis verlor und alle, auch seine Verwandten, neu kennenlernen musste. Er spürte zu niemandem auch nur die geringste Bindung, nicht einmal zu seinen Eltern, bei denen er aufgewachsen war und zu denen er ein denkbar gutes Verhältnis gehabt hatte.
Verwandtschaft bedeutete also gar nichts, wenn man sie nicht pflegte. Das hieß aber, dass Edgar mit jedem Tag, den er ohne Kontakt zu seiner Familie war, weiter von dieser wegdriftete. Wenn er Glück hatte, würde Matthias eine vage Erinnerung an ihn behalten, doch Anni würde wohl nicht mehr wissen, wer er war, wenn sie ihn eines Tages hier antraf. Und nicht nur das: Auch er würde sie nicht erkennen.
Wurden Ehen deshalb nur bis zum Tod geschlossen und nicht darüber hinaus, weil die Familie danach zerfiel? Und wurden Verwandte deshalb als „vom selben Fleisch und Blut“ bezeichnet, im Gegensatz zu „Seelenverwandten“, die eben nicht zur Familie gehörten?
Edgar betrachtete das Foto seiner Familie und spürte, wie es hinter seinen Augen zu brennen begann. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, er musste einen Weg finden, sich von ihr abzukoppeln, egal, wie sehr er die Drei immer noch vermisste. Wenn ihn sein Aufenthalt bei den Großeltern etwas gelehrt hatte, dann, dass selbst der Himmel keine Wünsche erfüllte, die das Verhältnis zu anderen Seelen betrafen. Seine Beziehung zu seinen Großeltern würde nie wieder so sein, wie sie es früher einmal gewesen war und wenn eines fernen Tages Heike, Matthias und Anni hier ankämen, würde Edgars Verhältnis zu ihnen nicht mehr so sein wie damals, als er sie verlassen hatte.
Während der Anblick seiner Liebsten auf dem Foto hinter schmerzenden Tränen verschwamm, erkannte Edgar, dass er zunächst einmal Abstand von ihnen brauchte, möglichst viel.
* * *
„Partymeile“, so nannte Edgar schließlich jenen Bereich des Himmels, in dem er zunächst Abstand gesucht hatte und dann hängen geblieben war. Diesen Namen hatte er nicht von ungefähr gewählt, denn hier reihten sich Bars an Diskotheken, Nachtklubs an Spielkasinos und Restaurants an alle sonstigen Gaststätten, die Ablenkung und – so verrückt das auch war – körperliche Vergnügungen boten. Er lernte andere Seelen kennen, mit denen er sich gut verstand, und verlor diese wieder aus den Augen, nur um sie später wiederzutreffen.
In dieser Himmelsregion herrschte ununterbrochen Party, sie war wie ein durchgängiger Rausch, der nur dann aufhörte, wenn Edgar es wollte.
Begonnen hatte es damit, dass Edgar ein Glas Bier in Gesellschaft anderer Seelen zu sich nehmen wollte. Hierzu hatte er sich in ein Bierlokal gewünscht und war daraufhin in einer wahren Kaschemme mit dunkler Holzvertäfelung und schwacher Beleuchtung erschienen. Einige Gäste lehnten hier an der Theke, andere hockten wie Mauerspinnen im Dunkel hinter den Tischen. Edgar stellte sich an den Tresen und bestellte ein Bier, woraufhin er von seinem Thekennachbar angesprochen wurde, der sich Kurt nannte. Kurt, eine Seele, die ihr irdisches Leben im Jahr neunzehnhundertzwanzig beendet hatte, führte Edgar mit wenigen Sätzen in diesen Teil des Himmels ein: Party Tag und Nacht – das Schankpersonal künstlich – alles erhältlich – Bezahlung nicht vonnöten.
Kurt war Edgar sympathisch. Er erzählte ihm den ganzen Abend von dieser Partymeile und was er hier schon alles erlebt hatte. Als Edgar Tage später wieder in diese Kneipe ging, stand Kurt noch immer am selben Fleck, führte Edgar noch einmal in die Partymeile ein und erzählte dieselben Anekdoten wie beim ersten Mal. Wieder ein paar Tage später stand eine andere Seele bei Kurt am Tresen – und auch dieser erzählte er alles, was er Edgar zweimal mitgeteilt hatte im exakt selben Wortlaut, mit exakt denselben Akzentuierungen, Pausen und Gesten. Von da an hielt Edgar sich von Kurt fern.
Überhaupt hatte sich seine Meinung über diese Kneipe schnell gewandelt. War ihm ihre Ruhe und Gemütlichkeit zunächst sympathisch gewesen, stellte er bald fest, dass die Gäste hier nie wechselten. Ab und zu verirrte sich eine neu im Himmel angekommene Seele hier herein, aber keine blieb länger oder kam wieder. Edgar versuchte, mit den anderen Stammgästen ins Gespräch zu kommen, doch diese gaben sich entweder wortkarg oder wollten überhaupt nicht reden. Zumindest erfuhr er, dass der Jüngste in der Runde seit sechsunddreißig Jahren hier saß und der Älteste seit knapp vierhundert Jahren – ohne Unterbrechung. Je länger die Verweildauer der Gäste hier war, desto weniger sprachen sie. Der älteste Gast bewegte sich nicht einmal mehr, außer, wenn er seinen uralten Weinbecher zum Mund führte. Aber sich bewegen oder reden war in dieser Kneipe auch nicht nötig, denn der gleichfalls schweigsame Kellner servierte die Getränke von sich aus nach. Edgar wurde die Kaschemme bald unheimlich und er mied sie fortan.
Stattdessen machte er ein Bierlokal ausfindig, das lebendiger auf ihn wirkte. Es wurde von fröhlichen Seelen besucht und es herrschte stets gute Stimmung. Hier kam er immer wieder her, wenn er es gerne etwas ruhiger hatte, das Lokal wurde sozusagen sein Stützpunkt.
Eine Zeit lang trieb er sich in Pubs herum. Es gab eine Unmenge davon, allesamt in derselben Straße, aber mit unterschiedlichem Stil: Die einen waren gemütlicher, die anderen prächtiger, die einen stilvoller, die anderen verrauchter. Edgar wechselte sie je nach Stimmung, denn für jede Laune fand er ein geeignetes, er brauchte nur ein beliebiges zu betreten und war jedes Mal genau im richtigen.
Edgar musste sich eingestehen, dass er sich seit seinem Tod nicht mehr so ausgelassen amüsiert hatte. Zum ersten Mal seit er-wusste-nicht-wann flirtete er wieder mit weiblichen Seelen und es dauerte nicht lange, bis er auf eine traf, mit der er auf eine nicht näher bestimmbare Weise harmonierte. Ihr Name war Andrea, sie war achtzehnhundertdreizehn gestorben und probierte seither die verschiedenen Bereiche des Himmels aus. Wie schon Fred erzählte auch sie, dass es im Himmel quasi unendlich viele solcher thematischer Schwerpunktbereiche gäbe, allesamt von Seelen bevölkert, die die jeweiligen Interessen teilten. Edgars eigene Erfahrung, abgesehen von der Partymeile, beschränkte sich auf seine Ausflüge im Sport-Bereich. Die Vorstellung, dass es solche Regionen für jedes nur denkbare menschliche Interessensgebiet geben sollte, faszinierte ihn.
Andrea wirkte auf Edgar überhaupt nicht wie eine Frau des achtzehnten oder neunzehnten Jahrhunderts. Sie hatte ein quirliges Temperament, drückte sich in moderner Sprache aus und hatte das Äußere einer schlanken, sehr attraktiven Anfangzwanzigerin. Der erste Eindruck, den sie auf Edgar gemacht hatte, war der einer ausgeflippten Popsängerin aus den neunzehnhundertachtziger Jahren gewesen. Sie hatte grün-weiß gestreifte Karottenhosen getragen, dazu eine cremefarbene Bluse, die an der Hüfte von einem breiten weißen mit Strass besetzten Gürtel zusammengehalten wurde, überknöchelhohe weiße Jogging-Schuhe und große neonfarbene Armreifen. In diesem Outfit hatte sie sich auf einer der zahllosen Tanzflächen einer riesigen Diskothek so hemmungslos den Techno-Rhythmen hingegeben, dass ihre gelockten schulterlangen Haare um ihren Kopf gewirbelt waren.
Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut miteinander. Als Edgar sie fragte, warum sie wie eine Pop-Prinzessin gekleidet sei, erklärte sie, dass sie immer mit der Zeit ginge. Gemeint war, dass sie sich modisch immer die Seelen jener jungen Frauen als Vorbild nahm, die neu im Himmel ankamen. Dass sie in den Neunzehnhundertachtzigern hängen geblieben war, sei eine Ausnahme, denn dieser Look gefalle ihr nach wie vor.
Edgar verbrachte viel Zeit mit Andrea. Ihre oberflächliche, immer fröhliche Art machte es ihm leicht, die Oberflächlichkeit der Partymeile zu genießen, in ihrer Gegenwart fühlte er sich unbeschwert und gut. Er tanzte mit ihr im Stroboskoplicht diverser Diskotheken, weil Andrea das liebte. Einmal überredete er sie zu einem Partnertanz, nach welchem sie meinte, seine Bewegungen würde sie nicht als tanzen bezeichnen. Sie lachten viel miteinander.
Für Edgar war die Partymeile das Oberflächlichste, was ihm im Himmel bislang begegnet war. Hier ging es vor allem um körperliche Genüsse, was ihm als Seele eigentlich nichts gab. Doch allein die Erinnerung daran, wie er sich als körperliches Wesen gefühlt hatte, war stark genug, dass er die Erlebnisse hier als reiz- und genussvoll erlebte. Und er war dabei durch keinerlei Grenzen eingeschränkt: Er konnte etwa so viel Schnaps trinken, wie er wollte, ohne davon betrunken zu werden – außer er wollte es. War er betrunken und wollte es nicht mehr sein, war er von einem Moment auf den nächsten wieder nüchtern. Dasselbe galt für das Essen, denn egal, wie viel Nahrung er in sich hineinschaufelte, er wurde nicht satt, wenn er es nicht wollte. Auf der anderen Seite konnte er schon von einem Schluck Bier und einem Bissen Brot volltrunken und pappsatt sein, was aber keine Rolle spielte, immerhin wurde er ja auch nur dann hungrig oder durstig, wenn er es wollte. Und das Beste daran: Edgar bekam wegen übertriebener leiblicher Genüsse weder gesundheitliche noch finanzielle Probleme, egal, wie sehr und wie lange er es übertrieb.
Doch selbst diese Medaille hatte eine Kehrseite, denn der Anteil an alkohol- und drogenabhängigen Seelen in der Partyzone war erschreckend hoch – obwohl alle Betroffenen freiwillig unter ihrer jeweiligen Sucht litten. Edgar konnte sich das nicht erklären, bis Andrea Licht ins Dunkel brachte. Die Süchtigen hier, so erklärte sie, seien Seelen, die bereits vor ihrem Tod an ihrer jeweiligen Sucht gelitten hatten und teilweise auch daran gestorben waren. Im Jenseits angekommen, führten sie ihr Verhalten einfach fort. Ihr Rausch wurde zu einem Dauerzustand, denn im Gegensatz zum Diesseits kamen hier keine medizinischen, familiären oder sonstigen Konsequenzen zum Tragen. Das wirklich Fatale an der Sache, so sagte Andrea, war die Gewohnheit, denn jede dieser Seelen hätte sich nur wünschen müssen, nicht mehr süchtig zu sein und wäre von einem Moment auf den nächsten clean gewesen. Denn wer im Himmel nicht süchtig sein wollte, der war es auch nicht.
Edgar erkannte, dass jede Seele ihr Schicksal selbst in der Hand hatte. Deshalb war Mitleid auch ein Fremdwort im Himmel, so paradox das aus christlicher Sicht auch erscheinen mochte.
Auf der anderen Seite
»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«
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