Kapitel 17: Nur oberflächliche Vergüngungen
In seinem Gespräch mit Andrea will Edgar nun endlich erfahren, was manche Seelen dazu bewegt, den Himmel verlassen zu wollen. Eine Frage, die nicht ohne Weiteres beantwortet werden kann.
Andrea seufzte. „Es war ein langsamer Prozess. Irgendetwas hat sich in ihm aufgestaut, das ihm schlussendlich wohl unerträglich wurde.“
„Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Was ist passiert?“
Andrea richtete sich hastig auf und blickt sich ängstlich um, ehe sie raunte: „Sei vorsichtiger mit deinen Fragen. Die meisten Seelen reden nicht gerne über die große Bestrafung, sie haben Angst, dass zu viel Gerede weitere Seelen auf die Idee bringen könnte, den Himmel zu verlassen.“
„Und selbst wenn. Ich finde, diese Entscheidung muss jeder für sich treffen, oder? Ich meine, das hier ist doch der Himmel, da hat jeder die Freiheit, für sich zu entscheiden …“
„Niemand ist scharf auf die große Bestrafung. Sie ist das schrecklichste Erlebnis, das es hier gibt und niemand sieht ein, warum alle darunter leiden sollen, dass ein paar Wenige entscheiden, Selbstmord zu begehen. Das ist die allgemeine Meinung.“
„Auf das läuft es hinaus? Selbstmord?“ Dieser Gedanke erschien Edgar schlüssig. Wenn das Verlassen des Himmels gleichbedeutend war mit der Aufgabe des ewigen Lebens, dann war es im Grunde nichts anderes als Selbstmord. Und dieser wurde im Christentum mit Mord gleichgesetzt, stellte also einen Bruch des fünften Gebots Gottes dar. Das erklärte für Edgar eine so heftige Reaktion wie die große Bestrafung.
Andreas nächste Worte verwischten diese neu gewonnene Klarheit jedoch gleich wieder: „Wir wissen nicht was passiert, wenn eine Seele den Himmel verlässt.“
Edgar versuchte, in eine andere Richtung zu denken, kam aber immer wieder auf seine ursprüngliche Frage zurück. „Dein Freund Angus“, begann er, „was war ihm so zuwider, dass er alles riskiert hat?“
Andrea zuckte mit den Achseln. „Im Lauf der Zeit hat er wohl den Sinn verloren. Er hat immer davon gesprochen, dass alles, was der Himmel uns biete, hohl und ohne Tiefe sei und wie sehr ihn das anwidere.“ Sie hielt kurz inne, dann ergänzte sie: „ Er hat gesagt: ‚Wenn du hinter die Fassade dieses angeblichen Himmels blickst, erkennst du, dass alle Wunscherfüllungen, ohne Ausnahme, nur Variationen ein und desselben Themas sind: oberflächliches Vergnügen‘.“
Edgar ließ Andreas Worte auf sich wirken. Er glaubte, etwas in sich nachklingen zu hören, auch wenn er nicht restlos verstand, was Angus damit hatte sagen wollen. „Weißt du, was er damit gemeint hat?“
„O ja!“ Edgar erschrak beinahe, so fremd war ihm Andrea mit ihrem heftigen Nicken und diesem Blick, der tiefgründiger war als alle, die er je bei ihr gesehen hatte. „Natürlich macht es Spaß, sich einen Wunsch nach dem anderen zu erfüllen. Und natürlich erlebst du Dinge, die dir davor verschlossen waren und die du dir nie zu erträumen gewagt hättest. Aber im Grunde ist das nicht mehr als eine Beschäftigungstherapie.“
„Aber … aber es gibt mir doch viel“, wandte Edgar ein. „Ich weiß nicht, ob es mir in meinem irdischen Leben jemals für so lange Zeit so gut gegangen ist, wie hier.“
„Du verwechselst das Leben nach dem Tod mit einem Urlaub. Von einem Interessensbereich zum nächsten zu hüpfen, nur damit du möglichst alles einmal gesehen und erlebt hast … das ist so, als würdest du ein Land besuchen, nur um all seine Sehenswürdigkeiten abzuklappern.“
„Du warst doch diejenige, die gesagt hat, der Sinn des Himmels bestünde darin, den Seelen jede nur erdenkliche Erfahrung zu ermöglichen.“
„Ja, aber doch nicht so simpel! Bei all dem Erleben geht es doch nicht ums Vergnügen, sondern um Selbsterkenntnis.“
Edgar rappelte seinen Oberkörper aus dem Wasser hoch. „Entschuldige, Andrea, aber seit ich mit dir zusammen unterwegs bin, hast du doch nur das Vergnügen gesucht und nichts anderes.“
„Das stimmt. Trotzdem täuscht der Eindruck. Ich bin seit zwei Jahrhunderten hier, da sind ein paar Wochen oder Monate oberflächliches Vergnügen gar nichts. Würdest du mich länger kennen, wüsstest du, dass ich, wenn ich durch die Bereiche des Himmels streife, die Dinge nicht nur sehen, erleben und begreifen will, sondern vor allem herausfinden, was sie bedeuten.“
„Was sie bedeuten?“
„Ja, mir – und den Seelen, die in ihnen leben. Ich will verstehen, warum diese Seelen so viel Energie in die Gestaltung ihrer Bereiche stecken und welchen Nutzen das der Gesamtheit der Seelen bringt, also dem Himmel allgemein.“
„Welche Erkenntnisse hast du dabei gewonnen?“
„Nur eine: Der Himmel entwickelt sich nicht weiter.“
„Warum sollte er?“
„Weil er von Menschen bewohnt ist.“
„Der Himmel ist nicht von Menschen bewohnt. Bestenfalls von toten Menschen.“
Andrea beantwortete Edgars Versuch, witzig zu sein mit einem vernichtenden Blick. Dann fuhr sie fort: „Es sind ausschließlich menschliche Seelen, die den Himmel bevölkern und die verhalten sich genauso, wie sie es in ihrem irdischen Leben getan haben oder gerne getan hätten. Folglich sind wir von unserem Verhalten her immer noch Menschen – wenn auch von mir aus in einem anderen Aggregatzustand. Und Menschen entwickeln sich normalerweise weiter, hier im Himmel jedoch nicht.“
„Vielleicht ist Entwicklung eine Sache, die auf das körperliche Leben beschränkt ist, so wie andere auf der Erde lebenswichtige …“
„Ach, Unsinn“, zischte Andrea und durchschnitt mit ihrer Handkante waagrecht die Luft. „Unsere Entwicklung war es doch, die uns biologisch so weit von den Tieren entfernt hat, dass wir nun einen eigenen Himmel bewohnen.“
„Hä?“ Edgar starrte sie an.
„Ist es dir noch nicht aufgefallen? Es gibt hier keine Tierseelen. Der Himmel ist nur für uns Menschen da, genauer gesagt, für die Seelen von erwachsenen Menschen. Wir haben uns also so weit entwickelt, dass wir ein Jenseits bevölkern, das nur auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist. Der Himmel ist somit durch unsere Entwicklung bedingt, in ihm selbst gibt es aber keine Entwicklung. Die Seelen hier weiten vielleicht ihre Interessensbereiche räumlich aus und variieren bestehende Gegebenheiten, aber alles, was neu ist, stammt aus dem Diesseits und gelangt mit den jeweils kürzlich Verstorbenen zu uns.“
„Okay, aber ist das nicht geradezu die Definition von Himmel? Wenn ich alles habe – warum soll ich daran etwas ändern wollen? Entwicklung ist doch nichts weiter als der Wunsch nach Veränderung, um ein Ungleichgewicht zu korrigieren oder einen Mangel zu beseitigen. Das ist hier aber nicht nötig, weil es weder Ungleichgewichte noch Mängel gibt.“
„Da gebe ich dir Recht. Aber genau dieser Zustand führt in die Stagnation und damit in die Oberflächlichkeit. Dieser Himmel ist erfüllt von glücklichen Hohlköpfen.“
Edgar lehnte sich wieder zurück, verschränkte die Hände hinter seinem Nacken und blickte nachdenklich in das tiefe Blau über sich. Er wusste, dass diese Farbe nichts anderes war, als sozusagen ein Stück umgewünschtes unendliches Weiß, aber das war ihm egal. Die Illusion von Glückseligkeit, fand er, war allemal besser als eine wirkliche Tristesse. So antwortete er: „Besser ein Himmel voller glücklicher Hohlköpfe, als eine Erde voller herrschsüchtiger Fanatiker, die den Tod von Millionen Menschen in Kauf nehmen, nur um herauszufinden, wer von ihnen den längsten Penis hat.“
Ob er es wahrhaben wollte oder nicht, Andrea hatte ihn mit ihren Worten beeindruckt. Er erinnerte sich an seine ersten Gehversuche im Himmel: Fred hatte ihn in den Sportbereich gebracht, wo er Disziplinen ausgeübt hatte, die ihm in seinem Leben vor dem Tod nicht einmal eingefallen wären. Es war spannend und faszinierend gewesen und hatte ihm ehrlich Spaß gemacht, doch wenn Edgar nun an all die anderen Seelen dachte, die dort mit ihm trainiert oder gegen ihn gespielt hatten, musste er zugeben, dass ihr Verhalten nicht mehr gewesen war, als ein Bündel leerer Rituale. Sie hatten einen Körper trainiert, den sie sich nur einbildeten, und trugen Wettkämpfe aus, die sie immer gewannen, selbst gegen die Allzeit-Besten ihrer Sportart. Jeder Einzelne von ihnen stand jedes Mal auf der obersten Stufe des Siegerpodests, denn dazu musste er nicht mehr tun, als es sich zu wünschen. Mit einem Wettkampf im Sinne des Messens der eigenen Fähigkeiten mit denen anderer und Siegen im Sinne einer Bestleistung als Ergebnis langen, harten Trainierens hatte das nichts zu tun.
Edgar erkannte, dass den Seelen, die er dort angetroffen hatte, offenbar der eigentliche Sinn ihrer Beschäftigung abhandengekommen war. Dadurch degradierten sie ihre sportliche Betätigung zu einem oberflächlichen Vergnügen, ohne dass es ihnen bewusst war. Denn diejenigen, denen der Unsinn ihres Tuns bewusst wurde, verließen den Sportbereich des Himmels wohl unverzüglich.
Waren das nicht genau die Worte gewesen, die Angus laut Andrea verwendet hatte: oberflächliches Vergnügen?
Edgar ging in seinen Gedanken sogar noch weiter: Er hatte beobachtet, dass die Seelen keine Freude aus der Tätigkeit an sich gezogen, sondern aus der Tatsache, dass sie die Besten waren, selbst entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Und obwohl jede einzelne dieser Seelen gewusst hatte, dass ihr Erfolg nicht echt, sondern nur herbeigewünscht war, hatte ihn nicht eine von ihnen hinterfragt oder sich ihre Selbsttäuschung eingestanden. Im Gegenteil, Edgar hatte den Eindruck gehabt, dass bei einem Wettkampf, der von allen Teilnehmern gewonnen worden war, sich jeder Einzelne gefreut hatte. Sie täuschten sich also selbst und ignorierten die Wahrheit.
Dieses Verhalten erinnerte Edgar an eine Phase seiner Kindheit, in der er einen Tennisball mit der flachen Hand immer wieder gegen eine Wand schlug und sich dabei im Geist ausmalte, er würde ein Wimbledon-Turnier bestreiten und gegen die besten Tennisspieler seiner Zeit antreten. Wann immer er den Ball verfehlte oder ihn schlecht traf, so dass er aus seiner Reichweite sprang, wiederholte ich diesen Schlag oder erfand eine Ausrede, die es ihm erlaubte, trotz seines Fehlers weiterzuspielen und am Ende das Finale zu gewinnen.
Auf ähnliche Weise, so erschien es ihm, gewannen auch die Seelen hier ihre Turniere; ein kindliches Verhalten, wobei eigentlich – kindisch.
Edgar blickte zu Andrea, die ebenfalls in den Himmel starrte. Zumindest in Bezug auf die Seelen im Sportbereich hatte sie recht, diese entwickelten sich nicht weiter. Und für die in der Partymeile galt dasselbe. „Bist du wirklich der Meinung“, begann er vorsichtig, „dass sich die Seelen auch im Himmel weiterentwickeln müssen?“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Sie sah ihn an. „Ich habe nur festgestellt, dass hier keine Entwicklung stattfindet, obwohl Entwicklung etwas Ur-Menschliches ist.“
„Aber so wie du es sagst, klingt es, als sei das Fehlen von Entwicklung schlecht.“
Andrea richtete sich auf. „Ich meine, dass es die Existenz sinnleer macht. In unserem irdischen Leben haben wir gelernt, dass Veränderung zu Entwicklung führt; dass Entwicklung also notwendig ist, um sich geänderten Gegebenheiten anzupassen. Das hat uns Mutter Natur so vorgegeben oder der liebe Gott, wenn dir das lieber ist. Ich kann nicht glauben, dass im Himmel, in dem unser unsterblicher Teil die Ewigkeit verbringen soll, dieses Grundprinzip keine Geltung hat.“
„Das genau verstehe ich nicht. Wenn sich die Gegebenheiten hier im Himmel niemals ändern, dann brauchen sich die Seelen doch auch nicht anzupassen.“
„Davon rede ich ja die ganze Zeit, aber ich meine es anders als du. Indem wir Menschen uns in unserem irdischen Dasein immer angepasst haben, ist unser Geist rege geblieben und unsere Intelligenz ist gewachsen. Erst dadurch haben wir Fortschritte gemacht und diese Fortschritte haben ständig unseren Lebensstil verändert. Die Existenz der Seelen hier im Himmel ist ein Spiegelbild davon: Jede Seele, die aus dem Diesseits kommt, bringt ihre Lebenswelt hier ein. Das ist der Grund, warum sich die einzelnen Bereiche andauernd verändern. Aber innerhalb dieser Bereiche herrscht Stillstand. Die Seelen verharren auf der Entwicklungsstufe, auf der sie waren, als sie ihre irdische Hülle abstreiften. Und warum? Weil es keine Notwendigkeit gibt, sich weiterzuentwickeln.“
„Das ist nicht wahr! Schau dich selbst an: In der Zeit, in der du aufgewachsen bist, hat man die Entstehung des Menschen noch weitgehend als Schöpfungsakt Gottes angesehen. Heute kennst du die Evolutionstheorie, siehst aus wie eine Diskomaus aus den Neunzehnhundertachtzigern und zitierst Philosophen, die erst nach deinem Tod zur Welt gekommen sind. Ich denke, die Weiterentwicklung liegt in der Eigenverantwortung jeder einzelnen Seele. Vielleicht hat man dem Durchschnittsmenschen nur nie beigebracht, sich selbst zu entwickeln – von sich aus und ohne gesellschaftlichen Druck.“
Edgars Worte imponierten Andrea, das konnte er von ihrem Blick ablesen. Ein Gefühl von Stolz erfüllte ihn, immerhin war dies ein großes Kompliment. Andrea hatte so viel mehr Zeit als er im Himmel verbracht, in der sie Erfahrungen hatte sammeln können. Dass Edgar ihr nun eine neue Sichtweise vermittelte, die sie nicht selbst schon längst durchdacht hatte, war eine kostbare Seltenheit.
Auf der anderen Seite
»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«
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