Kapitel 29: Im Krieg

Gemeinsam mit neuen Bekannten beginnt Edgar ein Kriegsspiel. Was ihn ablenken soll, wird schnell zu einer Mühsal und er bereut, sich gewünscht zu haben, das Szenario müsse bis zu seinem Ende durchgespielt werden.

Erstaunt über den abrupten Themenwechsel setzte Ebenezer das Ale-Glas ab, seine Oberlippe glänzte nass. „Was denn? Jemanden verkloppen?“
„So was in der Art. Hast du eine Idee?“
Ebenezer beendete den unterbrochenen Schluck und blickte versonnen geradeaus. „Ich war schon lange in keinem Krieg mehr. Das fehlt mir.“
Edgar riss die Augen auf. „Du meinst, es gibt tatsächlich ein Schlachtfeld? Hier im Himmel?“
„Was heißt da eines? Endlos viele! In welcher Epoche willst du kämpfen? In der Antike mit Pfeil und Bogen, Schwertern und Streitwagen? Im Mittelalter mit Lanzen, Keulen und Armbrüsten? In der frühen Neuzeit mit primitiven Feuerwaffen? Im Zwanzigsten Jahrhundert mit Panzern, Flugzeugen und Sturmgewehren? Oder thematisch gefragt: Wilder Westen? Weltraum? Große Schlacht aus dem Film ‚Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs‘? Such dir was aus.“

* * *
Ebenezer stellte Edgar Andi, Franz und Helmut vor, drei Seelen, die er von früher her kannte und von denen er annahm, ihnen würde ein Kampfeinsatz gefallen. Tatsächlich waren die Drei sofort Feuer und Flamme, sie hatten soeben eine mehrjährige Wanderung durch die Bergregion abgebrochen und sehnten sich nach Abwechslung und „Action“, wie sie sagten. Edgar fragte sie, was sie dort erlebt hätten, aber auch Andi, Franz und Helmut erzählten ihm dieselbe Geschichte, die er bisher noch von jedem gehörte hatte, der dort gewesen war: Während des gesamten, endlosen Marsches hätten sie nie das Gefühl gehabt, auch nur einen Schritt voranzukommen und die Berge seien wie am Horizont festgeschraubt gewesen, bis sie ihre Wanderung als sinnlos empfunden und aufgegeben hätten.

Da es sowohl ihnen als auch Ebenezer egal war, in welchem Krieg sie und unter welchen Umständen und mit welcher Ausrüstung kämpfen würden, wählte Edgar ein mitteleuropäisches Gelände und die Bewaffnung einer Armee eines modernen Industriestaats zu seinen Lebzeiten.

Als es losging, fanden sich die Fünf in einem hügeligen Waldgebiet wieder, das sich über eine nicht überschaubare Distanz hinzog. Sie bildeten eine Infanteriegruppe, waren olivgrün adjustiert, trugen aber weder Rang- noch Hoheitsabzeichen.
Und sie hatten auf Anhieb Feindkontakt: Es schien Edgar, als sollten sie ihre Gegenspieler möglichst rasch kennenlernen. Die feindlichen Soldaten trugen in dunkelroten Tönen gemusterte Uniformen, wodurch sie gut von den Eigenen unterscheidbar, im herbstlichen Mischwald aber dennoch gut getarnt waren. Nach einem langen Schusswechsel, bei dem der Wald und die Geländeerhebungen beiden Seiten so gut Deckung gaben, dass es offenbar zu keinen Treffern kam, trat der Feind den Rückzug an.
Wie sich bald herausstellte, war das Kriegsspiel sehr simpel angelegt. Edgar und seine Kampfgruppe verfolgten einen feindlichen Stoßtrupp durch den Wald, wobei es immer wieder zu Zusammenstößen kam. Die Fünf wussten weder zu welcher Armee sie selbst gehörten, noch wer ihr Feind war, noch wozu ihr Auftrag in einem größeren taktischen Zusammenhang diente. Sie wussten nur, dass sie die dunkelrot Uniformierten stellen und vernichten mussten.
Edgar hatte sich Waffen gewünscht, die er aus seinem Grundwehrdienst kannte, weil er damit umzugehen wusste. Aber schon im zweiten Feuerwechsel wünschten sich seine Soldaten jeweils die Waffen, die sie gerade brauchten. Dass es den feindlichen Infanteristen dennoch gelang, sich ihnen immer wieder zu entziehen, legte den Schluss nahe, dass sie, oder zumindest einige unter ihnen, Seelen waren, denn als Seelen waren sie unverwundbar.
Das traf freilich auch auf Edgar, Ebenezer, Andi, Franz und Helmut zu. Wurden sie von einer feindlichen Kugel getroffen, so pfiff diese durch sie hindurch, als wären sie Geister. Getroffen, verwundet und getötet wurden nur die drei Figuren, die sie jeden Tag erschufen, damit sie stets in voller Gruppenstärke – acht Mann – operieren konnten. In der Tradition militärischer Abkürzungen nannten sie diese Figuren „KüKa“, als Abkürzung für „künstliche Kameraden“. Da der Feind tagsüber in unauffindbar gut versteckten Lagern schlief und nur nachts marschierte, erschufen Edgar und seine Leute ihre KüKa jeweils abends, damit diese das Gepäck tragen und mit ihnen kämpfen konnten. Wenn sie bis Tagesanbruch nicht gefallen waren, ließ Edgar oder einer seiner Kameraden sie verschwinden, sobald sie das Zelt aufgebaut hatten. Edgar konnte nicht sagen, warum, jedoch waren er und die vier anderen Seelen lieber unter sich.
Nach einigen Tagen fragte er sich, ob er dieses Vorgehen nicht als herzlos empfand, immerhin waren diese Figuren ja seine Kampfgefährten. Doch das war nicht der Fall. Die KüKa waren für ihn nicht mehr als praktische Werkzeuge und so wurden sie auch von allen behandelt. Und das war gut so, denn es verhinderte, dass emotionale Bindungen entstanden, die problematisch geworden wären, wenn ein KüKa schwer verwundet wurde oder fiel. Schließlich ging es hier nicht um eine authentische Kriegssimulation, denn eine solche wäre vor allem vom Leid getragen gewesen, hier ging es um einen harmlosen oberflächlichen Spaß, selbst wenn dieser in seiner Ausführung roh und grausam wirkte. Es war wie ein erweitertes Computerspiel, ein realer Ego-Shooter, der es seinen Spielern ermöglichte nach Kräften auszuteilen, ohne einstecken zu müssen.

Edgar war fasziniert davon, wie schlagartig und radikal sich die Art änderte, wie er und die anderen Seelen miteinander umgingen, kaum dass sie sich in dieser Kriegssimulation befanden. Es war gerade so, als ginge es hier tatsächlich um Leben und Tod und als sichere rüpelhaftes Benehmen und rauer Ton vor Schwäche und Gefühlsduselei, welche den Auftrag und das Leben der Männer gefährden konnten. Gleichzeitig entstand aber auch schnell eine tiefe und bedingungslose Kameradschaft zwischen ihnen.
Dieses Verhalten mochte echt sein, jedoch, und dessen war sich Edgar bewusst, nur für den Moment, da es auf den Umständen der Simulation fußte. Mit anderen Worten: Kameradschaftliches Verhalten gehörte nun einmal zu der kleinen Welt, die Edgar hier erschaffen hatte.
Er begann zu verstehen, was Ebenezer mit den „Zweckgemeinschaften“ gemeint hatte, die Seelen miteinander bildeten, wenn sie gemeinsamen Wunscherfüllungen nachgingen.

Etwa zwei Wochen lang verfolgten die Fünf nachtsüber den feindlichen Stoßtrupp, während sie ihn tagsüber vergeblich suchten. Keine Nacht verging, in der sie die fremden Soldaten nicht stellten und in ein Feuergefecht verwickelten, doch beide Seiten waren gleich schwer bewaffnet, wodurch die Schusswechsel immer unentschieden ausgingen und der Feind erneut fliehen konnte.
Als es wieder einmal so weit war, dämmerte gerade der Morgen am Horizont und Edgar und seine Männer beschlossen, in ihr Lager zurückzukehren und sich schlafen zu legen. Edgar marschierte voran. Er hielt sein Sturmgewehr feuerbereit mit der Mündung zu Boden gerichtet. Sobald seine hin- und herschweifenden Blicke den Feind ausmachten, brauchte er es nur zu heben und konnte schießen. Auch Ebenezer, der hinter ihm ging, war höchst konzentriert. Der Lauf seines Sturmgewehres folgte dem stechenden Blick, mit dem er die Umgebung sondierte. Seine Schweißtropfen passten sich der Tarnbemalung seines Gesichts an. Andi trug das Maschinengewehr der Gruppe auf den Schultern, er drückte es mit den Handgelenken gegen sein Genick. In Verbindung mit seinem herabhängenden Kopf sah er aus wie ein marschierender Gekreuzigter. Franz, der hinter ihm herschlurfte, war mit den Gurtkästen und dem Reservelauf für das Maschinengewehr behängt. Wie immer bot er einen schlampigen Gesamteindruck, sein Hemd hing ihm aus der Hose, unter dem Kragen standen drei Knöpfe offen, ein Hosenbein hatte sich aus dem Stiefel gelöst und in seinem Mundwinkel hing eine vor sich hinglosende Zigarette. Den Schluss bildete Helmut, der sein Sturmgewehr geschultert hatte und es am Lauf festhielt. Sein Blick war auf den Boden geheftet, womit er seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich das Gelände hinter der Gruppe zu sichern, nicht nachkam.
Als ihr getarntes Acht-Mann-Zelt in Sichtweite kam, hörte Edgar hinter sich Laute der Erleichterung. Sie alle waren es nicht mehr gewöhnt, dass sich ihnen ein gewünschtes Ziel entzog und Edgar hatte vergessen, wie mühsam es war, wenn der Erfolg ausblieb und wie sehr ihm das auf die Nerven ging. Während sie in das Zelt traten, zogen sie ihre Stiefel aus. Das ging so vor sich, dass die Stiefel von einem Moment zum nächsten an ihren Füßen fehlten und stattdessen frisch poliert an den Fußenden ihrer Schlafsäcke standen. Auch das Ausziehen der Uniformen wurde auf diese Weise erledigt, diese fanden sich frisch gewaschen, gebügelt und zusammengelegt neben den Stiefeln wieder. Mit einem tiefen Seufzen ließ Edgar sich auf seinen Schlafsack fallen. Dieser lag auf einer kleinen Wolke, die wenige Zentimeter über dem Boden schwebte.
Als er diese Wolke zum ersten Mal erschaffen hatte und in Superman-Manier in ihr schwebte, bekam Ebenezer einen Lachanfall. Es dauerte mehrere Minuten, bis er wieder normal atmen und sprechen konnte, dann wollte er wissen, was das solle. Edgar erklärte verwundert, dass man so auf einer Wolke liegen könne, selbst wenn es nur so aussähe. Ebenezer fragte, wieso er sich nicht gleich eine tragfähige Wolke wünsche und da kam Edgar sich richtig dumm vor. Er folgte Ebenezers Rat und stellte fest, dass ein Wolkenbett buchstäblich das Weichste war, was er sich vorstellen konnte.
Die fünf Krieger hatten sich darauf geeinigt, den Tag-Nacht-Rhythmus beizubehalten, um die Spannung des gesamten Erlebnisses zu erhalten. Entweder wünschten sie sich tatsächlich schlafend oder sie plauderten miteinander, würfelten oder diskutierten ihre taktische Lage sowie ihr Vorgehen in der kommenden Nacht.
Als Edgar nun bäuchlings auf seinem Schlafsack lag, wollte er nichts so sehr, wie eine Pause vom Krieg. Doch er war mit den anderen übereingekommen, dass niemand das Szenario verändern oder verlassen würde, bis ihr Auftrag ausgeführt war. Vielleicht, so dachte er, half ja ein wenig Ablenkung. „Erzählt mir von der Bergregion“, murmelte er in den Schlafsack hinein.
„Was willst du denn wissen?“ Auch Helmuts Stimme war nur ein Murmeln.
„Warum wart ihr dort?“
„Weil uns langweilig war, deshalb“, antwortete nun Franz. „Wir haben geglaubt, wir hätten schon alles vom Himmel gesehen. Außerdem ist uns kurz vorher eine Bergseele begegnet.“
Edgar saß mit einem Mal kerzengerade auf seiner Wolke. „Echt?“
„Ja. Der Typ war irre.“ Andi klang, als würde er zum Sprechen gezwungen.
„Wie seid ihr auf ihn gestoßen?“
„Gar nicht, er kam in den Himmel – und schon war er wieder weg.“ Nun setzte sich auch Helmut auf. „Es war so: Wir waren gerade auf einem Sightseeingtrip im katholischen Himmel und feierten die Auferstehungsmesse im Jesus-Christus-Dom mit, als plötzlich eine neue Seele ankam. Versteh mich richtig, normalerweise ist es nichts Besonderes, wenn ein Mensch im Diesseits stirbt und seine Seele hier auftaucht; du kennst das ja. Es sieht nicht anders aus, als hätte sich eine Seele an den Ort gewünscht, an dem sie gerade auftaucht. Mit dem Unterschied vielleicht, dass die Neuankömmlinge meistens verwirrt sind oder nicht glauben, was da mit ihnen passiert. Aber in diesem Fall war es anders. Während Papst Julius II. von der Kanzel herunter die Herrschaft der katholischen Kirche über den Himmel predigte, ging plötzlich ein Rütteln durch den gesamten Dom, wie bei einem Erdbeben. Die Seelen kreischten auf, wir nahmen ja alle an, es gäbe wieder einmal eine große Bestrafung, doch die Erschütterungen hörten schnell wieder auf. Stattdessen gab es einen dumpfen Knall vom Altar her, der im gesamten Dom widerhallte und plötzlich erschien dort diese Seele.“

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