Kapitel 26: Schattenbühne
Edgars Ausflug in die Schriftstellerei scheitert kläglich, bringt aber eine Gedankenkaskade in Gang, die seinem Erkenntnisweg eine neue Richtung weist.
Doch dann kam der Zeitpunkt, an dem Edgar das passive Zusehen zu wenig wurde. Der Auslöser für diese Erkenntnis war sein Besuch eines modernen Ein-Mann-Theaterstücks in einer Bar. Edgar konnte nicht verstehen, wie es einem Schriftsteller möglich war, einen einzigen Darsteller so in Szene zu setzen, dass dieser das Publikum über einen längeren Zeitraum hinweg in Atem hielt. Spontan wollte Edgar versuchen, ein solches Stück zu schreiben und ebenso spontan schuf er die Rahmenbedingungen dafür. Er wünschte sich in eine Dachkammer in einem der Wohnblöcke mit den Kleinwohnungen. Dort schuf er einen knarrenden Holzboden und einfaches Mobiliar, das wie einhundert Jahre alt aussah oder noch älter. Am Dachfenster ließ er einen wackeligen kleinen Tisch mit einer uralten Schreibmaschine erscheinen und davor einen Hocker. Dann setzte er sich auf den Hocker und fühlte sich auf Anhieb wohl. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm das Künstlerviertel unter einem sternenklaren Himmel, von dem ein erstaunlich heller Mond prangte. Die Beleuchtung in den Häusern und Straßen unter Edgar wirkte heimelig und schien zu flackern, gerade so, als hätte man hier alles auf Kerzenlicht umgestellt, nur für ihn. Edgar spannte ein leeres Blatt Papier in die Schreibmaschine und legte die Finger auf die Tasten. Sein Vorhaben erschien ihm kühn, beschränkten sich die Schreiberfahrungen seines diesseitigen Lebens doch im Wesentlichen auf das Ausfüllen von Formularen. Doch das hier war der Himmel, sagte er sich, und im Himmel gab es nichts, was er sich nicht wünschen konnte. Eine halbe Stunde später saß er immer noch vor dem leeren Blatt. Der Blick aus dem Fenster löste zwar einige Gefühle in ihm aus, doch Inspiration war, so schien es, nicht darunter. Sein anfangs geäußerter Wunsch „ich schreibe jetzt ein Erfolgsstück“ war unerfüllt geblieben, also nahm er ihn zurück und wünschte sich stattdessen „ein Theaterstück für einen Darsteller“ zu schreiben. Doch auch dieser erfüllte sich nicht, ebenso wenig weitere Varianten, die ihm noch in den Sinn kamen. Er gelangte zu der Erkenntnis, dass Kreativität, und anscheinend auch intellektuelle Fähigkeiten, Dinge waren, die nicht künstlich hergestellt und somit auch nicht herbeigewünscht werden konnten. Das eine beruhte offenbar auf Veranlagung, das andere auf Erfahrung und beides darüber hinaus auf Übung. Wenn das stimmte, konnte sich Edgar auch kein Wissen wünschen. Ein sofort durchgeführtes Experiment bestätigte seine Vermutung: Sein Wunsch, alles über die Welt des Theaters zu wissen, blieb ein Wunsch. Edgar spann diese Erkenntnis weiter und wurde sich bewusst, wie weitreichend sie war. Zum ersten Mal erkannte er, dass der Himmel nur Wünsche erfüllte, die mit der Seele an sich nichts zu tun hatten. Alles, was er sich bislang gewünscht hatte, waren Veränderungen körperlicher Erscheinungen gewesen. Er hatte sein Aussehen gewandelt, die Schwerkraft aufgehoben, Gegenstände erschaffen und wieder verschwinden lassen, sich selbst von A nach B teleportiert und Ähnliches. Das alles war doch nichts weiter gewesen, als eine Manipulation der Materie, also von Dingen, die in der Welt der Seelen im Grunde nicht wichtig waren. Was aber war hier wichtig? Wenn Edgar die Beschaffenheit seiner Seele erfassen wollte, musste er seine Selbstwahrnehmung auf das reduzieren, was sich nicht weiter verkleinern ließ. Er hatte diesen Zustand erlebt, unmittelbar nach seinem Tod, als seine Seele im unendlichen Weiß getrieben war. Dort hatte er keine Gestalt gehabt, war ein Teil der Umgebung gewesen. Die Bezeichnung „Gespenst“ wäre dieser Erscheinungsform am nächsten gekommen, doch Edgar wusste, dass sie nicht zutraf. Seine Seele hatte keine räumliche Ausdehnung, sie war reines Bewusstsein, durchsetzt mit einer Reihe von Eigenschaften, wie Emotion, Erinnerung, Geist und Kreativität. Die individuelle Mischung dieser Eigenschaften machte seine Identität aus, und die ließ sich nicht durch Wünschen verändern. Es war vielmehr so, dass das Wünschen selbst Teil dieser Eigenschaften war, nämlich Ausdruck seiner Kreativität. Und Kreativität mochte die Gegenwart verändern können und damit auch die Zukunft, nicht jedoch die Vergangenheit. Deshalb war es nicht möglich, dass Edgar sich willkürlich Wissen und Fähigkeiten herbeiwünschte, denn das waren Qualitäten, die – durch Erlernen und Erfahrung – die Identität einer Seele im Verlauf der Zeit individuell prägten. Edgars Ansinnen, der Natur des Himmels auf den Grund zu kommen, indem er dessen Bereiche erforschte, wurde im Licht dieser Erkenntnisse im Grunde zu einer Farce. Der Himmel bestand nicht aus den gewünschten Bereichen und dem, was darin geschah, er bestand aus Seelen, die sich diese Zustände herbeiwünschten. Wenn Edgar wissen wollte, wie der Himmel aussah und funktionierte, musste er die Grenzen ausloten, die den Seelen gesetzt waren, denn diese waren gleichzeitig auch die Grenzen des Himmels. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich in einer anderen Kunstform zu versuchen, zu erfahren, wie kurz oder lang es brauchte, die dafür nötigen Fertigkeiten zu erlangen. Doch dann machte er sich klar, dass ihn die aktive Seite der Kunst erst recht nie interessiert hatte. Er hatte weder ein Musikinstrument zu spielen gelernt, noch war er je bei einer Schultheateraufführung aufgetreten, von anderen künstlerischen Aktivitäten ganz zu schweigen. Nein, wenn er die Grenzen des Himmels anhand der Grenzen seiner eigenen Seele ausloten wollte, dann musste er das anders angehen. Vorerst jedoch stand ihm der Sinn nach etwas Zerstreuung. Er löste seine Dachkammer auf und wünschte sich zu einer Attraktion, von der er hier im Künstlerviertel schon viel gehört hatte. * * * Das dreidimensionale Schattenspiel war eine Besonderheit des Himmels, über die Edgar staunte, obwohl er bislang nur davon erzählt bekommen hatte. Der Bau, in dem es aufgeführt wurde, sah von außen aus wie eine riesige schwarze Halbkugel, wobei „Bau“ die falsche Bezeichnung war. Es handelte sich nämlich um einen Bereich ununterbrochener Nacht, der sich inmitten des normalen Tages- und Nachtlichts des Künstlerviertels befand. Die Seelen nannten diese Aufführungsstätte deshalb „Schattenbühne“. Edgar ließ die beeindruckende Dunkelkonstruktion lange auf sich wirken, ehe er die Licht-Schatten-Schwelle durchschritt. Im nächsten Moment fand er sich in einer schwarzen sternenlosen Neumondnacht wieder, deren einzige Lichtquelle eine beleuchtete Arena weit unter ihm war. Durch sie und ihren schwachen Widerschein an den vordersten Zuschauerrängen erkannte Edgar, dass er sich in einem Stadion befand, dessen Architektur dem antiken Kolosseum in Rom ähnelte. Anhand seiner eigenen Entfernung zur Arena und der Höhe, in der er über ihr stand, schätzte Edgar die Größe dieses Stadions jedoch auf ein Zigfaches jener des Kolosseums. Um sich herum sah er rein gar nichts, deshalb wünschte er sich einen leuchtenden Zeigefinger wie E. T. der Außerirdische. Damit erkannte er, dass er in einem der Ränge stand und sich nur hinzusetzen brauchte. Die Arena schien aus sich selbst heraus zu leuchten, wodurch die dreidimensionalen Schatten sichtbar wurden, die in ihr ein Theaterstück aufführten. Zunächst glaubte Edgar schwarz bekleidete Darsteller zu sehen, doch schon sein zweiter Blick strafte diese Wahrnehmung Lügen. Es waren tatsächlich Schatten – auf seltsame Weise ebenso dunkel wie transparent und an den Konturen verlaufend –, nur, dass sie nicht scherenschnitthaften Projektionen glichen, sondern als eigenständige dreidimensionale Erscheinungen agierten. Das Stück, das hier gezeigt wurde, handelte von einer Künstlerdynastie und rückte die Schicksale einzelner Familienmitglieder über Generationen hinweg in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wie Edgar bereits im Vorfeld erfahren hatte, war die Spieldauer auf die Ewigkeit hin ausgerichtet, die Handlung hatte also kein geplantes Ende. Auch ihr Beginn war nicht datierbar, denn keine der vielen Seelen, mit denen er darüber gesprochen hatte, hatte ihm sagen können, wie lange das Stück tatsächlich schon lief. Einige hatten in der Schattenbühne Zuseher angetroffen, die von sich behaupteten, schon seit Jahrzehnten dort zu sitzen. Ob das stimmte oder nicht, wagte Edgar nicht zu beurteilen. Einerseits hatte er Ähnliches schon so oft in anderen Zusammenhängen gehört, dass er es mittlerweile für ein gern erzähltes Gerücht hielt, andererseits hatte er aber auch schon die skurrilsten Typen im Himmel angetroffen. Und wenn eine Seele seit vierhundert Jahren in einer Kneipe sitzen konnte, warum dann nicht seit Jahrzehnten in einem Theaterstück? Edgar konnte nicht beurteilen, wie lange er in der Schattenbühne saß, er bemerkte nur irgendwann, dass es gar nicht die Handlung war, die ihn in ihren Bann zog, sondern die schier magische Ausstrahlung der lebendig gewordenen Schatten; etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen. Da er aber dennoch mitbekam, worum es in dem Stück ging, interessierte ihn, was bisher geschehen war. Er wandte sich in der Dunkelheit nach rechts, wo er vorhin im Schein seines leuchtenden Zeigefingers zwei Sitze weiter eine männliche Seele gesehen hatte und fragte: „Bitte verzeihen Sie die Störung, aber wissen Sie, ob ich irgendwo eine Zusammenfassung der bisherigen Handlung bekomme?“ Eine schwache Lichtblase erschien, die ihn und den Angesprochenen umfasste, und offenbar von diesem erschaffen worden war. Der Mann lächelte. „Es ist viel einfacher: Wenn Sie die Vorgeschichte eines Handlungsstrangs interessiert, wünschen Sie sich einfach, sie zu sehen.“ „Und dann?“ „Dann wird diese Passage in der Arena gespielt.“ „Aber wie ist das möglich? Ich meine, hier sitzen möglicherweise tausende Seelen, wenn da alle die Sonderwünsche von jedem Einzelnen ansehen müssen …“ Der Mann lachte laut auf. „Sie sind aber noch nicht lange im Himmel! Selbstverständlich sind Sie der Einzige, der den Handlungsteil sieht, den Sie sich wünschen. Sie können nach Belieben in der bisherigen Handlung herumspringen, außer Ihnen wird das niemand bemerken.“ „Ich liebe den Himmel!“ Edgar und sein Gesprächspartner lachten. „Ich bin Edgar.“ „Ebenezer, freut mich.“ Sie schüttelten einander die Hände. „Wie bekomme ich einen Überblick über die einzelnen Handlungsstränge?“ „Wünsch dir eine schematische Darstellung, die wird dir ebenfalls dreidimensional in der Arena dargestellt. Die brauchst du auch für einen Überblick über die handelnden Figuren, im Laufe der Jahre sind da einige zusammengekommen.“ „Und wenn ich wieder zur laufenden Handlung zurück will, also hierher?“ „Dann wünschst du dich einfach wieder hierher. In die Gegenwart.“ Edgar schwirrte der Kopf. Natürlich funktionierte hier alles so, wie auch im restlichen Himmel. Doch dieser interaktive Zugang zum Stück erschien ihm wie eine Kombination der Möglichkeiten eines Theaters, eines Internet-Videoplayers und eines Computerspiels. So etwas hatte er bisher noch nicht erlebt, und deshalb wirkte es wie eine Besonderheit des dreidimensionalen Schattenspiels auf ihn. „Kann ich auch einen Blick in die künftige Handlung werfen?“ Ebenezer sah ihn mit großen Augen an. „Wo denkst du hin, die gibt es doch noch gar nicht.“
NEUGIERIG, WIE ES WEITER GEHT?
Wollen Sie wissen, wie es Edgar weiter ergeht? Dann tragen Sie sich in meine Newsletter-Liste ein.
Mit meinem Newsletter bekommen Sie alle Informationen über Edgars-Reise und über alle meine Buchprojekte direkt in Ihr E-Mail-Postfach zugeschickt.
Ihre Daten verwende ich ausschließlich zur Zusendung meines Newsletters. Sie können sich jederzeit vom Newsletter abmelden. In jedem Newsletter steht Ihnen dazu ein Link zur Verfügung. Weitere Informationen zur Datenverwendung finden Sie in der Datenschutzbestimmung.