Kapitel 28: Himmel und Erde
Edgar und Ebenezer diskutieren über die Bibel und die Ordnung des Himmels. Dabei erklärt Ebenezer, warum die „große Bestrafung“ keine Strafe sein kann.
„Wie meinst du das?“ Edgar bemerkte, wie schwer seine Zunge inzwischen geworden war. „Sie haben uns den Himmel als Ort der vollendeten Glückseligkeit und der vollkommenen Gottesliebe beschrieben, nicht wahr? Und zwar im Angesicht Gottes bis in alle Ewigkeit.“ „Als der Silberfisch mich in das Licht geschickt hat, hat es kurze Zeit ganz danach ausgesehen“, räumte Edgar ein, „bis auf die Anwesenheit Gottes eben. Und das mit der Ewigkeit hat auch nicht so recht hingehauen.“ Er wartete, bis Ebenezer ihn fragte, was er meinte, damit er von seinem Martyrium im unendlichen Weiß berichten konnte. Doch der Lord spann, ebenfalls schon ein wenig lallend, seinen eigenen Gedanken weiter: „Ich glaube ja, dass der ganze Himmelsmythos von Gläubigen stammt, die kurz nach ihrem Tod wieder zurück ins Leben geholt werden konnten. Die haben einen kurzen Blick hier hereingeworfen, gesehen, dass all ihre Wünsche in Erfüllung gehen, gespürt, wie befreit sich ihre Seele anfühlt und geglaubt, das bleibt hier für immer so.“ „Und das Angesicht Gottes?“ „Keine Ahnung, vielleicht die Visage von dem Typ, dem sie als Ersten hier begegnet sind.“ Edgar musste an Fred denken, wie er freundlich winkend eine gläubige Seele empfing – und brach in schallendes Gelächter aus. „Aber was ist mit Jesus“, fragte er dann, „hat der nicht auch vom Himmel gepredigt?“ „Ja schon, aber nichts Konkretes, nur in Gleichnissen. Das ging soweit, dass ihn sogar seine Jünger einmal gefragt haben, warum er den Leuten andauernd mit Gleichnissen kommt.“ „Und was hat er geantwortet?“ „Er hat gesagt: ‚Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu erkennen; ihnen aber ist es nicht gegeben. Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen.‘“ Edgar starrte Ebenezer so lange an, bis dieser ergänzte: „Matthäus, Kapitel dreizehn, Verse elf bis vierzehn.“ „Wie – du zitierst die Bibel?“ „He, ich habe im Viktorianischen Zeitalter gelebt. Sogar mein Name steht für ein Bollwerk des Glaubens: ‚Samuel nahm einen Stein und stellte ihn zwischen Mizpa und Jeschana auf. Er nannte ihn Eben-Eser – Klammer auf: „Stein der Hilfe“, Klammer zu – und sagte: Bis hierher hat uns der Herr geholfen.‘ Erstes Buch Samuel, Kapitel sieben, Vers zwölf.“ Edgar stellte sein Bierglas in die Luft, um die Hände zum Applaudieren frei zu haben. „Bravo. Auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, was das bedeuten soll.“ „Diese Geste von Samuel beeindruckte die Philister so sehr, dass sie nicht weiter in das Gebiet Israels eindrangen.“ Ebenezer legte eine theatralische Pause ein, in der er einen großen Schluck von seinem Ale trank. Dann fuhr er gesellig fort: „Denk dir nichts dabei, das hat man mir von Kindesbeinen an eingebläut. Meine Eltern waren dermaßen evangelikalisch, bei uns war Jesus Christus bei jedem Abendmahl mit dabei, nicht nur beim letzten!“ Edgar lachte. „Für einen Gottesfürchtigen bist du ganz schön frech.“ „Gottesfürchtig bin ich nicht mehr, seit ich gesehen habe, wie das da heroben läuft. Es gibt nichts zu fürchten, das hier ist der Himmel.“ „Und was ist mit dem ewigen Gesetz?“ „Was für ein ewiges Gesetz? Die Zehn Gebote? Die gelten hier nicht.“ „Nein, ich meine das ewige …“, Edgar unterbrach sich selbst und fragte ehrlich verblüfft: „Wieso gelten die Zehn Gebote nicht?“ „Weil das Regeln sind, die Ordnung in das menschliche Zusammenleben bringen sollen. Menschlich, verstehst du? Familie, Staat, Gott. Mit uns Seelen hat das nichts zu tun.“ Offensichtlich spiegelte sich Edgars Unverständnis deutlich auf seinem Gesicht wider, denn Ebenezer setzte sogleich zu einer Erklärung an. „Denk einmal nach: Die ersten drei Gebote lauten: ‚Du sollst neben mir keine anderen Götter haben‘, ‚Du sollst dir kein Gottesbild machen‘ und ‚Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.‘ Wir kommen hier nicht in Versuchung, irgendwen anzubeten, abzubilden oder lächerlich zu machen und selbst wenn, hätte das keine Auswirkung. Das vierte Gebot befiehlt: ‚Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!‘ – Überflüssig. Fünftes Gebot: ‚Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.‘ – Wir sind tot, also pfeif drauf. Sechstes Gebot: ‚Du sollst nicht morden.‘ – Geht gar nicht. Siebtes Gebot: ‚Du sollst nicht die Ehe brechen.‘ – Keine Seele ist verheiratet. Achtes Gebot: ‚Du sollst nicht stehlen.‘ – Wir besitzen nichts. Neuntes Gebot: ‚Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.‘ – Es gibt hier keine Gerichtsverhandlungen und wer über andere Seelen Lügen erzählt, stellt sich selbst ins Aus. Und schließlich das zehnte Gebot: ‚Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen, blablabla, oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.‘ – Siehe achtes Gebot, wir besitzen nichts. Was hast du?“ Je länger Ebenezer gesprochen hatte, umso befremdlicher waren Edgar seine Ausführungen erschienen. Dieses Gefühl hatte wohl ebenfalls Edgars Mimik modelliert. „Ich kann mich irren“, erwiderte er langsam, „aber haben die Zehn Gebote nicht irgendwie anders geklungen?“ „Es gibt verschiedene Deutungen und Zusammenfassungen. Meine Version richtet sich nach den Worten der Bibel, Buch Exodus Kapitel zwanzig, Verse eins bis einundzwanzig. Originaler kriegst du es nur in der hebräischen Urfassung. Aber nach welcher Version auch immer: Die Zehn Gebote haben hier keine Relevanz.“ „Ich habe mich das schon gefragt, bald nachdem ich hier eingetroffen bin: Gibt es für uns überhaupt irgendwelche Regeln?“ „Selbstverständlich gibt es die“, Ebenezer sprach mit dem Brustton der Überzeugung, „und sie sind gleich klar wie einfach: Wir dürfen nichts tun, was wir nicht können.“ „Hä?“ Da Edgar sich gewünscht hatte, der Alkohol möge bei ihm wirken, fiel ihm das Denken nun leidlich schwer. „Anders gesagt“, erläuterte Ebenezer, „uns sind alle Dinge verboten, die wir nicht tun können.“ „Das würde aber im Umkehrschluss bedeuten, dass alle Dinge erlaubt sind, die wir tun können.“ „Das ist richtig.“ „Was ist dann mit der großen Bestrafung?“ Ebenezers schiefes Grinsen wirkte auf Edgar, als hörte er diesen Einwand jedes Mal an dieser Stelle der Diskussion. „Das Bebenphänomen, auf das du dich beziehst“, begann er, „mag alles Mögliche sein, aber es ist ganz sicher keine Bestrafung. Und bevor du fragst: Ich weiß auch nicht, was es wirklich sein könnte.“ „Woher willst du dann wissen, dass es keine Strafe ist?“ „Weil es die einzige Strafe wäre, die es gibt, und das wäre inkonsequent.“ „Eine Strafe für das Verlassen des Himmels? Was ist daran inkonsequent?“ „Dass es, wie gesagt, die einzige Strafe wäre. Abgesehen davon wäre es auch die seltsamste Strafe, die ich je erlebt habe, immerhin trifft sie nicht die Schuldigen, sondern alle anderen.“ „Vielleicht, um die Gesamtheit der Seelen zu ermahnen, die Abtrünnigen von ihrem Exodus abzubringen?“ Ebenezer trat nahe an Edgar heran und blickte ihm fest in die Augen. „Hör mir einmal zu. Erstens, seit ich hier bin, habe ich schon so manchen Auszug aus dem Himmel miterlebt und noch nie ist es dem versammelten Mob gelungen, auch nur eine einzige Seele von ihrem Vorhaben abzubringen. Wenn das also die göttliche Absicht wäre, dann wäre sie wirkungslos. Zweitens, so etwas wie eine‚ Gesamtheit der Seelen‘ gibt es nicht, und damit auch keine kollektiven Interessen. Und erst recht gibt es kein Interesse, das Seelen aufgezwungen wird, die es nicht teilen.“ „Was, es gibt keine Gemeinschaft?“ Edgar lachte schrill. „Wie kommst du denn auf die absurde Idee? Worin leben wir dann seit unserem Tod?“ Ebenezer ließ sich nicht beirren: „Im Himmel sind alle Seelen Individualisten. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Was immer wir hier tun oder lassen, wir tun es allein oder zumindest nur für uns selbst. Wir gründen keine Familien, wir scharen keine Freunde um uns, wir bilden keine Staaten. In den einzelnen Himmelsbereichen werden zwar Zweckgemeinschaften geschlossen und manchmal zieht man für einige Zeit mit einer oder mehreren anderen Seelen durch den Himmel. Aber solche Zusammenschlüsse dienen ausschließlich den Wünschen jeder einzelnen daran beteiligten Seele und nicht einem dadurch entstehenden Kollektiv. Deshalb gibt es auch nie böses Blut, wenn eine Seele eine solche Gemeinschaft verlässt. Ich war immer wieder gemeinsam mit anderen Seelen über Zeiträume hinweg unterwegs, die nach weltlichem Maßstab mehrere Jahre umfassten. Als sich unsere Wege wieder trennten, gab es weder Bitterkeit noch Trauer noch irgendeine Art von Bedauern. Es war ein Auseinandergehen in Freundschaft, dennoch vermisste ich danach keine einzige dieser Seelen. Das ist ein Verhalten, das es im Leben vor dem Tod nicht gibt.“ Edgar spürte, dass ihm der Mund offenstand. Ebenezer hatte Recht, doch warum waren ihm diese Dinge selbst nie aufgefallen? „Was … was sagt das über uns aus“, stammelte er, „dass wir Egoisten sind?“ „Es sagt aus, dass wir hier in der Lage sind, auf uns allein gestellt zu leben. Eine gesellschaftliche Ordnung, die den Einzelnen in ein Geflecht von Gemeinschaften unterschiedlicher Intimität einbindet, wie wir es vom Diesseits her kennen, ist doch nur nötig, wenn der Einzelne alleine nicht überleben würde. Als Sterbliche waren wir unzähligen Gefahren ausgesetzt, wir brauchten das Kollektiv. Hier im Himmel sind wir nicht nur unsterblich, gemeinschaftliche Bindungen wären für uns sogar hinderlich auf unserer Selbsterfahrungsreise.“ „… und deshalb keine Gemeinschaftsordnung …“, murmelte Edgar. Ebenezer fuhr fort: „Ein ganzer Rattenschwanz von Verhaltensformen und -normen bricht dadurch weg. Denk einmal nach: Wenn es keine geschlossene Gesellschaft gibt, braucht es auch keine Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Wenn es keine Gesetze gibt, braucht es keine Politik, die sie erlässt und keine Verwaltung, die ihre Einhaltung überwacht. Kurz, es braucht keinen Staat, und weil es keine Staaten gibt, gibt es auch keine diplomatischen Differenzen, die möglicherweise dazu führen, dass eine Regierung ihr eigenes Volk gezielt manipuliert, um an der Macht zu bleiben und damit die Freiheit jedes Einzelnen beschneidet, und, und, und.“ „Aber leben wir dann nicht in einer Anarchie?“ „Nein, denn wenn die Gemeinschaft nicht das Maß der Ordnung ist, gibt es auch keine Anarchie, weil die Anarchie ja das Fehlen einer solchen gemeinschaftlichen Ordnung wäre. Und wo keine Anarchie droht, bedarf es – umgekehrt – auch keiner gemeinsamen Ordnung.“ „Was ist aber dann das Maß unserer Ordnung?“ „Der Individualismus.“ Edgar ließ Ebenezers Worte auf sich wirken. „Du meinst“, schloss er dann, „wenn alles erlaubt ist und jeder nur auf sich selbst schaut – dann leben alle im Paradies?“ „Nein, das meine ich nicht.“ Ebenezer schüttelte entschieden den Kopf. „Dass ideologische Diskussionen aber auch immer in banalen Schlussfolgerungen enden müssen. Was ich meine ist, dass die Seelen nur durch ihre Unsterblichkeit vollkommen frei sein können.“ Edgar schwirrte der Kopf von diesem Stakkato aus Überlegungen und Schlussfolgerungen. Außerdem empfand er den Fanatismus, in den Ebenezer sich hineingeredet hatte, als beengend. „Ich will jetzt irgendwas Verrücktes machen.“ Erstaunt über den abrupten Themenwechsel setzte Ebenezer das Ale-Glas ab, seine Oberlippe glänzte nass. „Was denn? Jemanden verkloppen?“ „So was in der Art. Hast du eine Idee?“ Ebenezer beendete den unterbrochenen Schluck und blickte versonnen geradeaus. „Ich war schon lange in keinem Krieg mehr. Das fehlt mir.“ Edgar riss die Augen auf. „Du meinst, es gibt tatsächlich ein Schlachtfeld? Hier im Himmel?“ „Was heißt da eines? Endlos viele! In welcher Epoche willst du kämpfen? In der Antike mit Pfeil und Bogen, Schwertern und Streitwagen? Im Mittelalter mit Lanzen, Keulen und Armbrüsten? In der frühen Neuzeit mit primitiven Feuerwaffen? Im Zwanzigsten Jahrhundert mit Panzern, Flugzeugen und Sturmgewehren? Oder thematisch gefragt: Wilder Westen? Weltraum? Große Schlacht aus dem Film ‚Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs‘? Such dir was aus.“
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