Kapitel 4: “Das unendliche Weiß”

Edgar ist allein im unendlichen Weiß. Verzweifelt fragt er sich, womit er eine solche Bestrafung verdient hat.

Doch sein Lebenslicht erlosch nicht. Sein Zustand der puren, ausschließlichen Existenz veränderte sich nicht und das schon über einen quälend langen Zeitraum. Edgar konnte nicht sagen, wie viele Tage es waren, die er nun schon hier war, die unabänderliche Gleichförmigkeit seiner Umgebung und das Fehlen menschlicher Bedürfnisse wie Müdigkeit oder Hunger machten es ihm unmöglich, den Verlauf der Zeit einzuschätzen. Als besonders qualvoll empfand er seine völlige Ohnmacht, von der einzig sein Verstand ausgenommen war. Doch der Verstand war nur für den ein Verbündeter, der mit seiner Umwelt interagierte. Ohne die Rückmeldung von außen jedoch hing er sich in einer Endlosschleife von immer denselben Gedanken auf und wurde damit zu einem Feind.
Edgar glaubte schon längst nicht mehr daran, Zeuge einer biochemisch verursachten Übergangsvision seines Gehirns zu sein, er war mittlerweile zu einer völlig anderen Erkenntnis gelangt: Da sein anfängliches Glücksgefühl rasch abgeklungen war, ging er davon aus, dass es nicht durch das unendliche Weiß verursacht worden war, in dem er schwebte und dessen Teil er war. Viel eher war es wohl so, dass er mit dem Abstreifen seines Geistkörpers und seinem Sichauflösen in dem Weiß ein bisher nicht gekanntes Gefühl absoluter Freiheit erlebt hatte, das ihn – zumindest vorübergehend – glücklich gemacht hatte.
Auch hatte er bald festgestellt, dass das unendliche Weiß nicht so einheitlich war, wie er es anfangs wahrgenommen hatte. Ihm war aufgefallen, dass es in einem bestimmten Areal heller war, als in der restlichen Region um ihn herum, und auch wenn der Unterschied nur sehr gering ausfiel, so war er doch eindeutig erkennbar. Es war, als befände Edgar sich in einer dicken Nebelbank, die von der Sonne zum Leuchten gebracht wurde und dort am hellsten war, wo die Sonne am Himmel stand. Dieser Helligkeitsunterschied machte es Edgar überhaupt erst möglich festzustellen, dass er sich in jede beliebige Richtung drehen konnte. Nicht feststellbar war hingegen, ob er sich von der Stelle bewegte, denn der Lichtfleck war offenbar zu weit entfernt, um hier als Bezugspunkt zu dienen. Egal, ob er sich einbildete schnell oder langsam, vorwärts oder rückwärts, nach rechts, links, oben oder unten zu schweben, er konnte nicht überprüfen, ob er sich tatsächlich vom Fleck bewegte. Irgendwann richtete er sich auf den Lichtfleck aus, konzentrierte sich darauf, möglichst rasch auf ihn zuzuschweben und behielt diese erhoffte Bewegung für eine lange Zeit bei. Geschätzte zwölf Stunden später hatte sich nichts verändert, entweder kam er nicht von der Stelle, oder der Lichtfleck war tatsächlich so weit entfernt, dass sein zurückgelegter Weg nicht ausreichte, um ihn nun perspektivisch größer erscheinen zu lassen.

Edgar beendete seine Versuche und sank in große Verzweiflung. Wenn er seine Bewegung nicht wahrnehmen konnte, so machte er sich klar, war es egal, ob er diese Fähigkeit besaß oder nicht, denn in dem Fall konnte sie ihn nirgendwohin bringen.
Noch schlimmer als seine faktische Bewegungsunfähigkeit war für ihn die Ungewissheit, was das alles hier sollte – und der Umstand, dass er mutterseelenallein war. Ungewissheit an sich ließ sich ertragen, wenn man jemanden hatte, mit dem man sie teilen konnte. Doch ohne ein Gegenüber fühlte sich Edgar wie eine Ameise, die auf einem Streichholz am Ozean trieb.

Doch es wurde noch schlimmer. Da er darauf angewiesen war, selbst eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn seiner Situation zu finden, keimte die Erkenntnis in ihm auf, dass er sich hier auf einer Art Strafbank befand. Seine gesamte Existenz hier war auf sein Bewusstsein beschränkt und seine gesamte Wahrnehmung auf das unendliche Weiß. Das ergab nur einen Sinn, wenn er dieses Quasi-Nichtsein bewusst erleben musste. Was Edgar allerdings nicht verstand, war der Grund für diese Bestrafung. Nichts, was er in seinem Leben getan oder unterlassen hatte, war schlimm genug gewesen, dass er eine solche Strafe verdient hätte und falls doch, war ihm das nicht bewusst. Irgendjemand musste ihm also erklären, womit er sich versündigt hatte, denn solange er das nicht wusste, hatte seine Bestrafung überhaupt keinen Sinn.
Indem Edgar darüber nachdachte, welches Fehlverhalten ihm hier möglicherweise zur Last gelegt wurde, kam ihm eine Reihe von Ideen, die er selbst für gleichermaßen denkbar wie abstrus hielt. Zum Beispiel konnte es sein, dass er hier vielleicht gar kein persönliches Vergehen büßte, sondern ein kollektives; etwa weil er einer Gesellschaft angehört hatte, die aktiv dazu beitrug, den natürlichen Lebensraum der Erde zu zerstören, weniger entwickelte Gesellschaften auszubeuten, Tiere für Profit zu quälen und so weiter. Oder vielleicht war es so, dass der Himmel nicht von einem guten, sondern von einem bösen Gott regiert wurde. Oder von einem Pulk höher entwickelter Wesen, die hier ein gigantisches Experiment durchführten.

All diese gedanklichen Konstrukte hatten eines gemeinsam: Edgar konnte sie weder beweisen noch widerlegen.

* * *

Auch wenn Edgar nicht einschätzen konnte, wie schnell die Zeit verlief, so ging sie doch nicht spurlos an ihm vorüber. Es waren wohl Wochen vergangen, seit er hier angekommen war, wenn nicht gar Monate, und je länger er im unendlichen Weiß des Jenseits festsaß, je verzweifelter wurde er. Er wusste von Experimenten, in denen Wissenschaftler ihre Versuchspersonen der völligen Reizlosigkeit aussetzten, wobei schon nach wenigen Minuten erste Visionen bei den Probanden einsetzten. Das menschliche Gehirn war offenbar nicht für eine Umgebung ohne Reiz gebaut. Zwar hatte Edgar kein Gehirn mehr – was vielleicht der Grund dafür war, dass Visionen bei ihm ausblieben –, doch war er eine Umgebung gewohnt, die alle Sinne ansprach.
Und als wäre das Fehlen von Sinnesreizen nicht schlimm genug, war Edgar auch noch zu völliger Hilflosigkeit verdammt; egal was er tat oder unterließ, nichts veränderte seine Situation. Dass er aufgrund dieser Umstände nicht wahnsinnig wurde, führte Edgar darauf zurück, dass jene höhere Macht, die ihn hier festhielt, sein Leiden verlängern wollte. Schließlich war er bereit, seiner Existenz ein Ende zu setzen, doch an Selbstmord zu denken allein reichte offenbar nicht aus – und andere Möglichkeiten hatte er nicht.
Edgar erinnerte sich, dass es einen Namen für einen Ort gab, an dem eine Seele bis in alle Ewigkeit Qualen über sich ergehen lassen musste. Man nannte ihn allgemein „Hölle“.

* * *

Wann genau der Zeitpunkt war, ab dem ihm alles egal wurde, konnte Edgar im Nachhinein nicht mehr festmachen. Er bemerkte nur, dass er sich mit seiner Situation offenbar abgefunden hatte, denn sein Hiersein hatte mit einem Mal jeglichen Schrecken verloren. Es war anscheinend tatsächlich so, wie es der Silberne gesagt hatte: Erkannte man erst, dass es nichts mehr zu erledigen gab, wurde die Ewigkeit zu einem Zustand, den man so hinnahm, was er war. Zwar empfand Edgar ihn auch weiterhin nicht als schön, doch war es so besser, als ständig gegen die Sinnlosigkeit der puren, tätigkeitslosen Existenz seiner Seele aufzubegehren.
Was sich nicht verflüchtigt hatte, war seine schreckliche Einsamkeit, im Gegenteil, sie verstärkte sich immer mehr. Mittlerweile mochten seit seiner Ankunft im ewigen Weiß mehrere Monate vergangen sein, Monate, in denen Edgar vorwiegend an seine Familie gedacht hatte. Er vermisste sie unglaublich und fragte sich immer wieder, wie Heike wohl ohne ihn zurechtkam, welche Arbeit sie gezwungenermaßen angenommen hatte und wer sich während ihrer Arbeitszeit um die Kinder kümmerte. Er sorgte sich um sie, auch wenn er wusste, wie sinnlos das war, denn egal, was mit ihm hier noch passieren würde, zurückkehren würde er nicht. Das war so sicher wie der Umstand, dass sein Körper gerade irgendwo anderthalb Meter unter einer Grabplatte verfaulte. Das alles änderte aber nichts daran, dass seine stärksten Gefühle und Erinnerungen seiner Familie galten und da es nichts gab, das ihn ablenkte, war er den Gedanken an sie hilflos ausgeliefert.
Ab und zu, in froheren Momenten, dachte er auch an seine Freunde. Er stellte sie sich am Fußballplatz vor und in ihrer Stammkneipe nach dem Training. Jeder von ihnen war auf seine Weise verrückt und ihre Verrücktheiten potenzierten sich, wenn sie gemeinsam um die Häuser zogen.
Ab und zu dachte er auch an Tommi, doch diese Gedanken verdrängte er schnell wieder, denn zu groß war sein Hass auf ihn. Er konnte ihm nicht verzeihen, dass er ihn getötet hatte, auch wenn es ohne Absicht geschehen war und die Tatsache, dass sich immer auch ein schlechtes Gewissen dazumischte, weil Edgar ja nicht in sein Auto hätte steigen müssen, verschlimmerte seinen Hass nur noch mehr. Dennoch hätte er gerne gewusst, ob Tommi den Unfall überlebt hatte und was mit ihm geschehen war.

Mehr als alles andere wünschte sich Edgar, eine andere Seele oder sonst ein Wesen zu treffen, mit dem er sich austauschen konnte, denn die Einsamkeit brachte ihn fast um.
Eines Tages glaubte er, im unendlichen Weiß etwas aufblitzen zu sehen. Für die Dauer eines Wimpernschlags, so war es ihm vorgekommen, hatte er einen Schimmer mehrerer Farben gesehen. Er tat diese Erscheinung als Einbildung ab, doch geraume Zeit später – es mochten einige Tage vergangen sein – erlebte er dieses Phänomen wieder, diesmal für die Dauer etwa einer Sekunde. Während dieser Zeitspanne erblickte Edgar den Ausschnitt einer Landschaft, eine grüne Wiese vor einem Wald, zu dem sich ein schmaler Pfad hinschlängelte. Die Erscheinung hatte in etwa die Größe einer mittleren Kinoleinwand und ihr Rand war unregelmäßig und lief in zunehmender Durchsichtigkeit zum Weiß hin aus.
Da wusste Edgar, dass er sich nicht getäuscht hatte. Seine Hoffnung, das unendliche Weiß würde löchrig werden und eine andere Welt durchlassen, schien sich zu erfüllen, denn in der Folge traten solche Erscheinungen immer häufiger auf. Dann war es schließlich soweit: Mit einem Mal wurde das Weiß schräg unter Edgar durchsichtig und gab den Blick auf die Alleebäume und niederen Häuser einer Wohnstraße frei.
Edgar war über diesen Anblick so erleichtert, wie schon lange nicht und ihn überkam eine Freude, wie er sie das letzte Mal gefühlt hatte, als das unendliche Weiß ihn in sich aufgenommen hatte. Als er versuchte, sich auf die Erscheinung zuzubewegen, erlebte er zum ersten Mal, dass es klappte. Er schwebte zu der Wohnstraße hin und je näher er kam, je kräftiger wurden ihre Farben und Konturen. Mitten auf der Straße nahm Edgar eine menschliche Gestalt wahr, die sich bei seinem Näherkommen als junger Mann entpuppte. Dieser stand da, sah zu Edgar, der aus seiner Perspektive aus dem Himmel geschwebt kam, grinste und winkte ihm zu.
Edgar landete vor dem Mann und sah sich irritiert um. Nicht nur, dass er mit einem Mal wieder menschliche Gestalt hatte, auch der Himmel über ihm hatte sich geschlossen. Wohin er auch blickte, kein Quäntchen des ewigen Weiß war mehr zu sehen, die Wohnstraße, in der er gelandet war, sah genauso aus wie jene, in der er mit seiner Familie gewohnt hatte.
Der Mann vor ihm grinste noch immer. Er war ein hagerer Kerl Anfang zwanzig mit einer dickrandigen Brille und der Kleidung eines Teenagers, der nun Edgars rechte Hand schnappte und enthusiastisch schüttelte. „Willkommen, willkommen“, sagte er eifrig, „ich freue mich, dich kennenzulernen. Mein Name ist Fred.“

Das Buchcover von 'Auf der anderen Seite' von Roland Zingerle zeigt einen FBI-Agenten im Jenseits, der eine letzte Aufgabe erfüllen muss.

Auf der anderen Seite

»Sieh es als deinen letzten Auftrag an«, sagte Ed. »Du bist der Einzige, der jetzt noch eine reelle Chance hat, New York zu retten. Nur du kannst Cohen noch erreichen, bevor die Bomben explodieren. Joe – du kannst noch zur rechten Zeit kommen.«

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